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rheinische ART 09/2012

 

ARCHIV 2012

Die Kunst der Installation - Orhan Pamuk


„Museum der Unschuld“

 

 

Ein Romankosmos als Museum – das sucht seinesgleichen. Das jüngst eröffnete private „Museum der Unschuld“ des türkischen Nobelpreisträgers für Literatur Orhan Pamuk ist etwas Besonderes im Kulturbetrieb der Stadt Istanbul. Betitelt wie der Roman ist die ausgestellte Sammlung quasi die visualisierte Ausgabe des 2008 erschienenen Buches. Georg Simet hat nicht nur das Buch gelesen, sondern auch das Museum besucht.

 

Orhan Pamuk und seine Sammlung alltäglicher Gegenstände (© Masumiyet Müzesi)

 

RUND sieben Jahre schrieb Orhan Pamuk an dem Werk. Es sei jedoch nicht nötig, so der renommierte Autor, den Roman „…zu lesen, um das Museum genießen zu können.“ Der Roman, das ist ein 83 Kapitel starkes Sittenbild der Türkei, dass den scharfen Kontrast einer Gesellschaft zwischen Moderne und Tradition ab den 1970er Jahren aufgreift.

 

Das Buch

 

Worum geht es in dem Roman Masumiyet Müzesi (Museum der Unschuld)? Es handelt sich um die tragische Geschichte einer Liebesbeziehung. Der Schriftsteller schildert eine Gesellschaftsschicht am Bosporus, die in vielem ganz und gar westlich erscheint und doch noch traditionelle Züge trägt. Der Held namens Kemal Basmacı, ein 30-Jähriger aus dem Istanbuler Establishment, ist standesgemäß mit der modernen und eleganten Sibel verlobt, verfällt aber der Liebe zu seiner verarmten Cousine - der blutjungen, naiven und wunderschönen Füsun. Was als Affäre beginnt, wächst sich bald zu einer Obsession aus, doch das hindert Kemal nicht, seine Verlobung fortzuführen. Nach dem rauschenden Verlobungsfest lässt sich die Geliebte wie angekündigt nicht mehr blicken. Verzweifelt erkennt Kemal, dass er Füsun über alles liebt. Doch es ist zu spät, er hat die Frau seines Herzens verloren.

 

Ein Museum zum Buch - oder ein Buch zum Museum? Das rostrot gestrichene, 4,50 m schmale Haus in Cukurcuma ist als unabhängiges Privatmuseum eine Art begehbare Version der literarischen Vorlage. Der Umbau wurden von dem auf Museen spezialisierten deutschen Architektenbüro Gregor Sunder-Plassmann durchgeführt

 

Schaufenster mit gesammelten Schlüsseln: Sinnbild für den Zugang zu Buch, Museum und Menschen, die man liebt

 

Kemal errichtet daraufhin seiner verlorenen Liebe Füsun ein imaginäres, sentimentales „Museum der Unschuld“. Seine gequälte Seele findet Trost im Sammeln von Dingen, die die Geliebte besessen, berührt, benutzt oder betrachtet hat - oder gar nur betrachtet haben könnte: Tee- und Rakı-Gläser, Tischdecken, Taschentücher, Schachteln, Haarspangen, Eintrittskarten, Olivenkerne, Servietten… - tausende von Erinnerungsstücken, obsessiv gesammelte Devotionalien einer unerfüllten Liebe.
    Ursprünglich geplant war, Museum und Buch gleichzeitig der Öffentlichkeit zu präsentieren. Doch der Umbau des Hauses, der Aufbau und die Einrichtung der Sammlung nahmen weit mehr Zeit in Anspruch als gedacht. Das Schreiben des Romans ging viel schneller voran. Zwei Jahre nach Pamuks Nobelpreis kam der Roman 2008 auf Türkisch und auch bereits auf Deutsch in den Buchhandel. Die Museumseröffnung wurde zunächst für 2010 angekündigt und sollte ein Highlight des Jahres werden, in dem Istanbul sich als Kulturhauptstadt Europas der Welt selbstbewusst zeigte. Doch auch dieser Termin konnte nicht gehalten werden. Erst im April dieses Jahres öffnete das Museum für Besucher erstmals seine Pforten.

 

Das Konzept

 

Die Idee zum Museum kam Pamuk bereits Ende der 1990er Jahre. Das Objekt, das er dann erstand, war ein heruntergekommenes Familienhaus in einem vormals recht noblen Viertel, ein Haus, das vermutlich einst von Armenieren erbaut wurde. Pamuk erwarb es, um daraus sein Museum zu formen.
    Dem Roman zufolge war es Kemal Basmacı, der Romanheld, der Pamuk beauftragte, seine Idee vom Museum umzusetzen. Dem Bagatti-Valsecchi-Museum in Mailand als Vorbild nachempfunden, solle das Museum der Unschuld:
• nicht zum Besichtigen, sondern zum Erfühlen und Erleben da sein und
• seine Sammlung (koleksiyon) ermöglichen, die Seele der Dinge zu erfühlen. Denn
• ohne Sammlung sei ein Museum kein Museum, sondern bloß Ausstellungsgebäude.
Kernstück des Museums ist also die Sammlung, sind die aus- und zueinander gestellten Gegenstände und ihre Ordnung, ihre Anordnung im Raum. Ihre Bedeutung und ihre Wirkung gewinnen die Dinge, die allesamt Dinge des Alltags, häufig Müll (Zigarettenstummel), Trödel und Kitsch sind, durch eine mindestens fünffache Rahmung.

 

Die Vielfalt der Perspektiven

 

Zunächst ist da Pamuk selbst als Architekt, Kurator und Autor. Ausgestellt werden nicht nur historisch belegte Gegenstände, sondern auch fiktive, erfundene „Ready-Mades“. Pamuk ist kein Chronist, sondern Künstler. Bis zu seinem 22. Lebensjahr wollte er Maler werden. Danach studierte er Architektur. Doch nach eineinhalb Jahren brach er ab und änderte seine „moralische und intellektuelle Obsession“. Er beschloss Schriftsteller zu werden. Sein Museum sei „wie ein Roman“, eine Erzählung geformt aus Holz, Glas und Stein. Wie in seinen Büchern bewegt er sich in und durch die Geschichte des Osmanischen Reichs und der modernen Türkei, aber er bildet geschichtliche Vorgänge und Ereignisse nicht nach, sondern um. Er passt sie seiner Welt, seinen Intentionen und Thematiken an, indem er Gegebenheiten auswählt, gruppiert, ordnet, ändert und auch neu erfindet. Pamuk will, dass seine Landsleute „ihr eigenes Leben sehen. Und das wirkliche Leben soll es sein, nicht das vermeintlich westliche Lebensgefühl unserer Reichen.“

   Pamuks Intention entsprechend spielt die Stadtgeschichte eine entscheidende Rolle. Bewusst versucht er, das melancholische Grundgefühl der Stadt, „hüzün“, auf seinen (nächtlichen) Wanderungen zu erspüren und als Schriftsteller produktiv umzusetzen.

   Dann ist da Kemal, der fiktive Auftraggeber, der besessene Sammler, der Filmschaffende und Einflüsterer, der (angeblich) im dritten Stock des einstigen Wohnhauses unterm Dach sein Zimmer hatte und Pamuk die Geschichte von Füsun und ihm erzählte, auf dass Pamuk sie niederschreibe. Als Indizien werden Kemals Bett und Stuhl gezeigt, auf denen Pamuk angeblich Rakı trinkend Kemal nächtelang lauschte. Dass dieser Bereich außerhalb des eigentlichen Museums liegt, wird schon dadurch deutlich, dass dieser Raum nicht (so) klimatisiert wird wie die darunter liegenden Ebenen.

 

Die Gegenstände der Sammlung werden in dicht gehängten Holzschaukästen präsentiert

 

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen natürlich die Gegenstände, die Füsun – laut Roman – in Gebrauch hatte und die Kemal, der Fetischist, an sich nahm. Roman und Museum entfernen sich in dieser Hinsicht jedoch am Weitesten voneinander. Denn die einzelnen Romankapitel werden nur auf ihre Überschriften hin in Blick genommen. Die Titel der Kapitel bilden die Kategorien, unter denen diverse Gegenstände gruppiert und als je eigener Minikosmos installiert werden. Der sehr detaillierte (noch nicht auf Deutsch vorliegende) Katalog weist denn auch fast jedes einzelne Romankapitel chronologisch geordnet von 1 bis 83 gesondert aus und bietet reichlich Hintergrundinformation zu den jeweiligen Arrangements. Doch einige Leerstellen sind geblieben. Die Vorhänge in einigen Vitrinen sind (noch) zugezogen. Insbesondere die Schaukästen, die für die Schlusskapitel des Romans reserviert sind, sind leer. Gerade ihre Leere zeigt das Unvollendete, die (beabsichtigte?) Vorläufigkeit des Bemühens, durch die einzelnen Aspekte und Arrangements im Betrachter eine Totalität entstehen zu lassen. Anders als der Roman soll die Sammlung gegen die Zeit agieren, a-historisch wirken. Der Besucher soll die Sammlung aus der Totalen, alle Exponate zugleich, wahrnehmen. Er „soll meine ganze Geschichte sehen“. So „wird er allmählich sein Zeitgefühl verlieren. Und darin besteht im Leben der allergrößte Trost.“

   Eine weitere Perspektive bietet der Roman selbst. Er hat einen Anfang und ein Ende. Er beginnt am 27. April 1975, unspektakulär (mit Kemals Blick auf eine Handtasche) und schließt mit Kemals Tod am 12. April 2007. Damit ist der Zeitrahmen gesetzt für die Suche nach passenden Objekten – doch primär nicht für den Roman, sondern für die Sammlung, die Installation, die nach Maßgabe des Museums ihr Eigenleben entfaltet. Primär ist stets der Erwerb der Dinge. „Ich dachte mir dann jeweils Romansituationen aus, in die diese Gegenstände hineinpassen könnten, von denen viele (etwa eine Quittenreibe) reine Spontankäufe waren.“

 

Fazit


Das Museum der Unschuld installiert eine vergangene, alltägliche Welt, das Istanbul der Jahre vor und nach dem dritten Militärputsch von 1980. Es ist eine weitgehend dingliche und dadurch vordergründig a-politische, unschuldige Welt, die durch ihre Viel-, aber auch Uneindeutigkeit in der Mischung von Fiktion und Realität den Betrachter in ihren Bann zieht. Der Komplex der Perspektiven und sich gegenseitig beeinflussenden Bezüge scheint schier unerschöpflich und ist noch lange nicht abgeschlossen. (Geplant sei unter anderem auch eine Zeitschrift.) Man darf gespannt sein, was Pamuk des Weiteren noch einfallen wird, um sein Gesamtkunstwerk Museum der Unschuld in Wort und Tat fortzuentwickeln.

 

Romanbesitzer sollten zum ersten Besuch des Museums ihr Buch mitbringen, enthält es doch auf Seite 553 in der deutschen (bzw. Seite 574 in der türkischen) Ausgabe eine Eintrittskarte. Das spart nicht nur den Eintrittspreis. Zur (Kontrolle und) Erinnerung wird die Eintrittskarte auch gestempelt. Das gestempelte Buch hat sodann das Potenzial zu einem Fetisch, Grundstein für eine eigene Sammlung.

Die Zitate stammen aus den deutschen Ausgaben der Bücher Museum der Unschuld, Der naive und der sentimentalische Romancier und Istanbul, Erinnerungen an eine Stadt.



Das Buch:
Orhan Pamuk
Das Museum der Unschuld
Roman, 576 Seiten
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-23061-3
24,90 Euro

 

Die Ausstellung:
Masumiyet Müzesi
(The Museum of Innocence)

Museum der Unschuld

Çukurcuma Caddesi
Dalgiç Çikmazi, 2
34425 Beyoğlu
Istanbul
Tel.: 0090 212 252 9738

Öffnungszeiten:
DI – SO 10-18 Uhr
FR 10-21 Uhr

 

 

©Fotos: Museum of Innocence (2), Zafer Simet (1), Sunder-Plassmann (1)

 

 

 

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