GOTHIC MODERN
Mit dem Tod tanzen
Wenn es draußen kalt und ungemütlich wird, die Bäume Blätter verlieren, die Landschaften düster werden und die Tage gefühlt kürzer, ist Herbstzeit. Zeit für Geisterhaftes und Schauriges!
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Akseli Gallen-Kallela Lemminkäinens Mutter, 1897, 85,5 × 108,5 cm, Tempera auf Leinwand. Die Figur Lemminkäinen stammt aus der finnischen Mythologie und ist einer der Helden des Nationalepos Kalevala. Finnish National Gallery / Ateneum Art Museum, Antell Collections, Helsinki. © Foto: Finnish National Gallery / Hannu Pakarinen Bildquelle © ALBERTINA Wien 2025 |
In diesen Jahresabschnitt passt die aktuelle Schau der Wiener ALBERTINA. Gothic Modern titelt sie und ist eine außerordentlich umfassende Päsentation mit über 200 Werken von 50 großen Meistern.
Für zartbesaitete Seelen hingegen dürfte diese faszinierende Geisterbahn der Kunst nicht gerade das sein, was man in den Herbst- und Wintermonaten schaurig erblicken möchte. Fiedelnde Knochenmänner, unheimliche Wälder, Tote und dramatisch geschundene Körper wohin man schaut, Höllen- und Hexenszenen.
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Edvard Munch Golgotha, 1900, 80,5 × 120,5 cm, Öl auf Leinwand, Munchmuseet, Oslo © Foto: Munchmuseet / Ove Kvavik. Bildquelle © ALBERTINA Wien 2025 |
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Dennoch: Gothic Modern ist ein hochinteressanter Blick auf einen Teil der Kunstgeschichte. Worum geht es? Im Fokus, so erklärt das ausstellende Haus, stehen Meisterwerke vom Symbolismus bis Expressionismus, die durch die emotionale Ausdruckskraft mittelalterlicher Kunst inspiriert sind. Und diese Parallelitäten sind ebenso erstaunlich wie sehenswert.
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Hans Baldung Grien Maria mit Kind und Papageien, 1533, 91,5 × 63,3 cm, Mischtechnik auf Lindenholz, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, © Foto: Germanisches Nationalmuseum, Foto: Dirk Meßberger. Bildquelle © ALBERTINA Wien 2025
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Paula Modersohn-Becker Stillende Mutter, 1902, 72,2 × 48 cm, Öl auf Pappe. Kunstpalast Düsseldorf. © Foto: Kunstpalast – LVR-ZMB – Joshua Esters – ARTOTHEK. Bildquelle © ALBERTINA Wien 2025
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„Die Moderne wird zumeist als radikaler Neubeginn und als ein Bruch mit der Tradition verstanden. Überraschend ist hierbei jedoch, dass die Künstler:innen der Moderne durchaus auch auf historische Vorbilder blickten, allerdings auf solche, die vor die akademische Tradition zurückgehen, nämlich auf Werke des Mittelalters beziehungsweise der Gotik. Genau diese ungewohnte Perspektive auf die Moderne steht im Zentrum von Gothic Modern…“ erklärte Ralph Gleis, Generaldirektor der ALBERTINA und Kurator der Ausstellung.
Die Schau bringe moderne und gotische Werke in einen direkten Dialog miteinander und lasse auch erkennen, „wie zeitgemäß und innovativ gotisches Kunstschaffen in Form und Ausdruck bereits war.“ So gesehen ist die ALBERTINA-Ausstellung in der Tat eine hochspannende Präsentation.
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Vincent van Gogh Kopf eines Skeletts mit brennender Zigarette, 1886. 32,3 × 24,8 cm, Öl auf Leinwand, Van Gogh Museum, Amsterdam (Vincent van Gogh Foundation). Bildquelle © ALBERTINA Wien 2025
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Die Themenschau beleuchtet nämlich eine Kunstentwicklung in der Zeit von 1875 bis 1925. Es waren jene fünf Jahrzehnte, in denen sich zahlreiche Kunstschaffende wie Paula Modersohn-Becker, Max Beckmann, Otto Dix, Vincent van Gogh, Gustav Klimt, Käthe Kollwitz (mehr), Edvard Munch, Egon Schiele oder Helen Schjerfbeck bewusst von der ausdrucksstarken Kunst eines Holbein, Dürer, Cranach oder Baldung Grien inspirieren ließen.
Wer denkt schon im ersten Augenblick daran, dass „Kopf eines Skeletts mit brennender Zigarette“ als satirischer Kommentar zur herrschenden akademischen Kunstpraktik von Vincent van Gogh (mehr) stammt, gemalt 1886, also vier Jahre vor seinem Tod?
Auch Egon Schiele bediente sich an der rohen Gothik. Überhaupt der gebürtige Österreicher Schiele (mehr), oft tituliert als Ausnahmekünstler der Wiener Moderne. Von ihm wurde seit jeher gern behauptet, er sei eher ein gotischer Maler, dessen verdrehte und malträtiert wirkenden Körperwindungen und -verknotungen an altmeisterliche Märtyrergemälde erinnerten.
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Egon Schiele Männlicher Akt, 1912, 48,2 × 31,7 cm, Bleistift und Aquarell auf Papier. Wien Museum. © Foto: Wien Museum. Bildquelle © ALBERTINA Wien 2025
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Martin Schongauer Der heilige Sebastian, letztes Drittel 15. Jahrhundert. 15,6 × 11,1 cm, Kupferstich. ALBERTINA, Wien. Bildquelle © ALBERTINA Wien 2025
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Und dass sich quasi im Zuge der Moderne diverse traditionelle Kunstschatz-Orte zu Hot-spots einer neuen Kunstpilgerschaft etablierten, ist eine weitere Erkenntnis.
Man denke da an Arnold Böcklin und Max Beckmann. Sie besuchten wie viele ihrer kreativen Zeitgenossen Matthias Grünewalds Isenheimer Altar in pittoresken Colmar.
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Marianne Stokes Melisande, um 1895, 87 × 52 cm, Tempera auf Leinwand. Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, © Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln, Wolfgang F. Meier, RBAd000064. Bildquelle © ALBERTINA Wien 2025
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Ernst Ludwig Kirchner und Edvard Munch sowie der belgische Symbolist Fernand-Edmond-Jean-Marie Khnopff zeigten sich von ehemals florierenden Hansestädten mit ihrem mittelalterlichen Gepräge, wie etwa Lübeck, Köln oder Brügge, fasziniert. Das Exponat „Rheinbrücke bei Köln“, von Kirchner 1914 geschaffen, ist bester Ausdruck dieser Rückgriffe auf die Vergangenheit.
Besonders in den deutschsprachigen und nordeuropäischen Ländern manifestierte sich die Rückbesinnung auf die Ästhetik der Gotik als Teil der zeitgenössischen Kunstanschauung, heißt es in Wien.
Als wichtiges Kunstzentrum der Moderne war es eben auch Wien um 1900, dass sich zu einem bedeutenden Schmelztiegel für diese innovativen künstlerischen Strömungen entwickelte und damit zu einem wesentlichen Knotenpunkt in der transnationalen Vernetzung Kunstschaffender.
rART/cpw
Die Ausstellung Gothic Modern Munch Beckmann Kollwitz ist bis zum 11. Januar 2026 geöffnet.
ALBERTINA
Albertinaplatz 1
1010 Wien
T +43 (0)1 534 83 0
Öffnungszeiten
Täglich von 10.00 – 18.00 Uhr
Mittwoch und Freitag von 10.00 – 21.00 Uhr















