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rheinische ART 05/2015

Archiv 2015

NACHSINNEN ÜBER SCHÖNHEIT

Back to basics

 

Nach vier Monaten Renovierung feiert das Mori Art Museum (MAM) in Tokyo seine Wiedereröffnung mit einer Spitzenausstellung. „Simple Forms: Contemplating Beauty“ titelt die Schau und widmet sich damit den „einfachen Formen“. Unter den vertretenen zeitgenössischen Künstlern: Katsuhito Nishikawa von der Museum Insel Hombroich.

 

Installationsansicht: "Simple Forms: Nachsinnen über Schönheit", Mori Art Museum, Tokyo

Skulptur: Carsten Nicolai anti 2004 PP lightweight structure, sound module, theremin module, transducer, amplifier, light-absorbent black paint,  300 × 255 × 255 cm; Foto © Mori Art Museum Tokyo, Foto: Furukawa Yuya

 

Die Ausstellung ist nicht nur thematisch ungewöhnlich, sondern auch von der organisierten Kooperation. Erstmals richtet das MAM, dass als Asiens Pionier-Museum für zeitgenössische Kunst gilt, eine Schau gemeinsam mit dem Centre Pompidou Metz und der Fondation d´entreprise Hermès Paris aus. Die Kuratoren spüren der „einfachen Form“ nach – bei näherer Betrachtung ein ganz und gar nicht einfaches Unterfangen.

 

Henri Matisse Formen von "Jazz" 9 ,1947, Schablone auf Papier, 40.8 x 57.7cm  Collection: Museum of Modern Art, Kamakura & Hayama, Foto © Mori Art Museum Tokyo

 

Ausstellung Was sind „einfache Formen“? Gibt es sie überhaupt? In Tokyo wird versucht, die Frage greifbar zu machen. Es sind vor allem die Formen der Natur und der Geometrie, deren Einfluss auf die Kunst hier untersucht und präsentiert werden.
     Ein Blick auf die Ausstellungsobjekte überrascht zunächst aufgrund der Prominenz der Künstler, die sich wie ein Who-is-Who der westlichen und japanischen Kunstgeschichte liest. Doch von reinem Posing ist man hier weit entfernt, denn mit den Objekten wird inhaltlich stark gearbeitet.

     Eine Chronologie sieht die Ausstellung nicht vor, und dennoch könnte man den als Sammler von Strandgut vertretenen Le Corbusier als Konzentrat der Ausstellungsthematik begreifen. Niklas Maak erklärte bereits die Bedeutung dieser Fundstücke, die man - mit den Worten Adolf Max Vogts - als „niedere Stereometrie“ bezeichnen könnte, in seinem Buch „Architekten am Strand“ auf brillante Weise.

 

Anonym Birdstone, Entstehungsjahr nicht bekannt, Slate 4,8 × 10,2 cm Sammlung Ahrenberg, Schweiz, Foto © Mori Art Museum Tokyo

 

Natur Es sind die Grundformen der Natur, wie sie in Schneckenhäusern und Kristallen erscheinen, die nicht nur Le Corbusier im wahrsten Sinne des Wortes zu inspirieren schienen. In Gestalt von Strandgut sind sie zugleich Abbilder idealer Formen und dennoch einzeln individuell, unvollkommen und unregelmäßig. Dieser Spagat zwischen der geistigen Dimension der idealen Form und der realen Dimension der Naturgesetze, die diese "idealen Formen" stets unterschiedlich ausprägen, markiert das Gebiet der Tokyoter Ausstellung.


Mechanik und Geometrie „Painting is finished. Who can do better than this propeller?“ Marcel Duchamps programmatischer Ausspruch ist Ausdruck einer Begeisterung für einfache Formen, wie sie generell charakteristisch sind für die westliche Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts. Vom russischen Konstruktivisten Antoine Pevsner bis zu Anthony McCall werden in Tokyo Arbeiten von Künstlern gezeigt, die der „reinen Form“ in ihren Werken huldigen.

 

Jean Arp Bud 1938 Plaster 40.5×19×20cm Collection: Centre Pompidou, Musée national d’art moderne, Paris Photo © Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand Palais / Adam Rzepka / distributed by AMF © VG BILD-KUNST, Bonn & JASPAR, Tokyo, 2015 D0938;  Foto © Mori Art Museum Tokyo

Abstraktion Dass wir diesem Phänomen nicht nur in der Moderne begegnen zeigt das Beispiel Sesshu: Der Mönch aus dem Shokoku-Ji in Kyoto bereiste China und lernte dort die Malerei des Festlandes, die er mit klassischen Elementen der japanischen Malerei kombinierte. Von beidem sagte er sich los und schuf visionäre, menschenleere Landschaftsbilder in Tusche, die sich durch starke Geometrisierung auszeichnen. Sein Stil blieb ohne Nachahmer, dennoch gilt er heute als einer der Großmeister der japanischen Malerei und erreichte in seinen Arbeiten einen Grad an Abstraktion, wie er später nur im 20. Jahrhundert erreicht wurde.

 

Im Gegensatz dazu stehen die Formen der Natur selbst, wie sie von Jean Arp (mehr), Karl Blossfeldt oder Katsuhito Nishikawa aufgegriffen werden. Für Nishikawa ist die Ausstellung in Tokyo ein Homecoming. Skulpturen des Künstlers zieren bereits Teile des edlen Geschäftsviertels Marunouchi nahe der Ginza.

 

Der Künstler Katsuhito Nishikawa in seinem Atelier auf der Raketenstation Hombroich. Foto ©rART

 

Der auf der Insel Hombroich (mehr) bei Neuss arbeitende Künstler und Designer bezieht seine Anregungen aus den Formen, mit denen die Natur ihn umgibt. Blattformen und Blütenkelche werden mit den Augen des Bildhauers auf ihre Grundgestalt zurückgeführt, bis zur Essenz der Form – ähnlich wie Blossfeldt, der die komplizierten und sich ins unendliche wiederholenden Strukturen von Pflanzen und Gewächsen fotografisch so in Szene setzt, bis sie zum reinen Ornament reduziert sind.

 

Katsuhito Nishikawa Physalis, 1996, Crystal glass, 36 x 54 x 36cm, Obayashi Corporation Tokyo, Ausstellungsobjekt im Mori Art Museum Tokyo


Die individuellen Figurationen der Natur und ihre abstrakten Vorbilder, die reale und die geistige Dimension – in der Tokyoter Ausstellung sind sie zwei Facetten derselben Sache: Der Versuch, sich auf das Wesentliche zu besinnen und es Wert zu schätzen. Das Geheimnis der Einfachheit hatte man in Japan schon lange verstanden, wie sie sich in der Bewunderung für die Ido-Teeschalen im 16. Jahrhundert zeigt: einfachste koreanische Gebrauchsware, die aber in Japan als Inbegriff natürlicher Schönheit gepriesen wurde. Der Begründer der Mingei-Bewegung, Soetsu Yanagi, lobte die Ido-Schalen noch im 20. Jahrhundert mit den Worten: „Natural Things are healthy things. There are many kind of art, but none better than this. (…) Why should beauty emerge from the world of ordinary? The answer is, ultimately, because the world is natural.“

 

Albrecht Dürer Melencolia I, 1514, Engraving 24.1×18.8cm Courtesy: Ota Fine Arts Foto © Mori Art Museum Tokyo

 

Die Sehnsucht nach der idealen Form wiederum ist auch stets die Sehnsucht nach dem Transzendenten: Sie zeigt sich in Dürers klassischem Stich „Melancholia I“, dessen irritierender Tetraeder bis heute Rätsel aufgibt. In einer eigenen Sektion „home for solitude“ wird dieser Melancholie, die als Verzweiflung des Menschen vor der Übermacht der natürlichen Perfektion zu begreifen ist, Rechnung getragen.

     Eine berühmte Teeschale des Raku-Meisters Chojiro dient dabei auf anschauliche Weise der Illustration. Chojiro begründete nicht nur den bis heute in Kyoto bestehenden Clan der Raku-Familie, sondern erfand in Zusammenarbeit mit Sen no Rikyu eine ganz neue keramische Technik, welche zum ersten Mal der Asymmetrie, der scheinbaren Unvollkommenheit der Form und Unregelmäßigkeit der Glasur eine eigene ästhetische Kategorie vermittelte.

     Die Schlichtheit seiner Teeschalen war bahnbrechend: ein simpler Zylinder auf einem schmalen zylindrischen Sockel. Chojiro nähert sich der zylindrischen Grundform, doch er hinterlässt den Zylinder unregelmäßig und scheut sich auch nicht vor sichtbaren Spuren des Brennvorgangs, vor Zufällen, welche die Hitze des Ofens auf der Glasur hinterlässt. Er lässt die Natur hier im wahrsten Sinne „walten“ und findet seinen eigenen Weg, diese künstlerisch zu kompensieren. Die Keramik wird zum Spiel zwischen der Annäherung an das große Ideal und der Einsicht in das eigene Unvermögen.

 

Das Mori Art Museum wurde 2003 eröffnet und gilt seither als bahnbrechendes Expositionshaus für zeitgenössische Kunst. Sein Gründer Minoru Mori (1934-2012) war Präsident von Mori Building, dem größten Immobilienentwickler in Japan. Mori vertrat die Ansicht, dass Kultur die Identität einer Stadt prägt. Er ließ das MAM symbolisch auf der obersten Etage des von ihm gebauten Hochhauses „Roppongi Hills Tower“, einem der Wahrzeichen der Metropole Tokio, errichten.

 

Blick vom Mori Art Museum auf Tokyo. Das zeitgenössische Kunstmuseum nimmt die obersten sechs Ebenen des Mori Towers ein. Foto © Mori Building Co. Tokyo

 

Eines der Kernziele des Hauses ist die ständige Präsenz und Zugänglichkeit von zeitgenössischer Kunst für Interessierte. Entsprechend sind die Öffnungszeiten. Außer dienstags ist das Museum täglich bis 22 Uhr geöffnet, so dass Berufstätige, Studenten, Schüler oder Touristen sich in Ruhe bis in die Nacht den Exponaten widmen können. Nach Angaben des Mori Art Museums nutzen 30 Prozent der Besucher die Zeit nach 17 Uhr. Bis 2014 wurden insgesamt 13,5 Millionen Besucher aus aller Welt im Museum registriert.


Teilnehmende Künstler (alphabetisch):
Jean Arp, Étienne Béöthy, Karl Blossfeldt, Constantin Brancusi, Brassaï, Chōjirō, Le Corbusier (as a collector), Marc Couturier, Albrecht Dürer, Olafur Eliasson, Enku, Lucio Fontana, Susanna Fritscher, Hashimoto Heihachi, Barbara Hepworth, Anish Kapoor, Ellsworth Kelly, Koo Bohnchang, Kupka, Kuroda Taizo, Lee Ufan, Robert Mapplethorpe, Étienne-Jules Marey, Henri Matisse, Anthony McCall, John McCracken, Henry Moore, Patrick Neu, Carsten Nicolai, Nishikawa Katsuhito, Ohmaki Shinji, Okada Koyo, Okazaki Kazuo, Gabriel Orozco, Charlotte Perriand, Antoine Pevsner, Pablo Picasso, Man Ray, Medardo Rosso, Emmanuel Saulnier, Sengai, José Maria Sicilia, Carl Strüwe, Sugimoto Hiroshi, Tanaka Nobuyuki, Wolfgang Tillmans, Tsai Charwei, Xavier Veilhan, Not Vital, etc.

Robert Woitschützke

 

Die Ausstellung "Simple Forms: Contemplating Beauty" wird bis zum 5. Juli 2015 gezeigt.

Mori Art Museum (MAM)

53F, Roppongi Hills

Mori Tower, 6-10-1

Roppongi, Minatoku Tokyo, Japan

 

 

 

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