Archiv 2015
KUNST UND MEDIZIN
Krafts Rezeptbuch
Um es vorweg zu nehmen: Es geht hier nicht um kochtechnische Anleitungen eines namhaften Lebensmittelkonzerns für Freunde kulinarischer Freuden. Es geht ausschließlich um Kunst. Und zwar um Kunst auf Rezept.
Eun Nim Ro (*1946, Süd-Korea) Technik: Objekt; vorderseitig verglaster Holzkasten (13,9 x 18,7 x 7,5cm) mit rotem Herz aus Holz, signiert und datiert 2000. Handschriftlicher Text auf dem Objekt: „Zeit, Geduld und Liebe heilen alles.“ ´Man sieht nur mit dem Herzen gut`, an diese Zeilen aus dem ´Kleinen Prinzen` von Antoine de Saint-Exupéry erinnert das Objekt der Künstlerin. Foto © Hartmut Kraft 2015 |
Und die gibt es im wahrsten Sinne des Wortes tatsächlich. Vor etwa 30 Jahren wurden in deutschen Arztpraxen die schwarz-weißen Kassenarztrezepte durch neue Formulare ersetzt. Die ungültig gewordenen Rezeptblätter wanderten damals üblicherweise durch den Reißwolf und in die Papierkörbe.
Erico Baj (*1924, Italien) Technik: Fotografie, Fotocollage; Foto auf Originalrezept (recto), signiert, nicht datiert (ca. August 1999). Man nehme: die Liebe. Der Künstler als Arzt verschreibt diese Rezeptur. Alles wird ab sofort (und bis auf weiteres) nur noch durch die rosa Brille der Liebenden gesehen. Die Liebe ist zeitlos und die Sprache der Augen ist überall auf der Welt zu verstehen. Foto © Hartmut Kraft 2015
Thomas Huber (*1955, Schweiz) Technik: Aquarell und Bleistift; auf Originalrezept (recto), signiert und datiert 01, betitelt „Malerei gegen Rückenschmerzen“. Geschwungene Formen auf den Rücken zu malen, empfiehlt Huber als Therapie gegen Rückenschmerzen. Der hart verspannten Rückenmuskulatur werden weiche Formen entgegengesetzt. Das Vertrauen auf die Kraft künstlerischer Arbeit steht im Zentrum, der Malerei selbst wird Heilwirkung zugeschrieben. Foto © Hartmut Kraft 2015
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Kunst auf Rezept? Nicht so bei dem Kölner Psychoanalytiker Hartmut Kraft. Abgesehen von der Tatsache, dass er als Facharzt für Nervenangelegenheiten eh vergleichsweise wenig Rezepturen verschrieb, wollte er seinen Rezeptblock mit noch fast tausend Formularen - „nahezu die komplette Erstausstattung eines Kassenarztes“ wie er feststellte - nicht einfach entsorgen, sondern einer „neuen Bestimmung“ zuführen. Er dachte da an Kunst.
Für Kraft kein abseitiges Thema. Er kennt sich aus. Bereits während seines Studiums hatte er sich mit den Wechselwirkungen zwischen Erkrankung, Heilung und Kunst befasst und promovierte 1975 in Göttingen über „Das geeignete Krankenzimmerbild“.
Kraft stellte sich mit Blick auf die veralteten Kassenarztrezepte seinerzeit die Frage: Wie würden Künstler reagieren, wenn ich sie bitten würde, diese funktionslos gewordenen Formulare wiederzubeleben? Wäre die Aufforderung, sich auf einem vorstrukturierten Papier oder gar auf dem gerade mal 6,5 x 7,5 cm großen Verschreibungsfeld eines Rezeptes künstlerisch zu äußern eine Herausforderung oder ein Hindernis? Mit dieser Idee avancierte der Kunstsammler zum Kunstanimateur, ja wurde quasi mit dem, was dann folgte, selbst zum Künstler.
Projektstart Der kunstaffine Mediziner startete sein Projekt im September 1987 mehr oder weniger als Probelauf, zunächst mit eng befreundeten Künstlern. Die ersten beiden Blanko-Rezepte zur Bearbeitung erhielten der international bekannte Kölner Maler und Performance-Künstler Peter Gilles und der Maler und documenta VI-Teilnehmer (1977) Herbert Falken.
Hartmut Krafts Idee, im „Zwischenbereich von Kunst und Medizin“ Kreativität entstehen zu lassen, erwies sich in den Folgejahren als durchaus tragfähig. Von Herbst 1998 an bis zum Frühjahr 2001 gelang es dem Kölner Sammler und Mäzen, sein Projekt unter der Bezeichnung „Kunst auf Rezept“ bundesweit wie auch international zu etablieren. Die Resonanz übertraf alle Erwartungen.
Antonius Höckelmann (*1937) Technik: Zeichnung; Bleistift auf Originalrezept (recto, um 90° gedreht) signiert und datiert 27.11.1998. Der Künstler greift auf diesem Rezept eines seiner großen und zentralen Motive auf: Die Freiheit liebende Kreatur (Mensch, Tier) und die sie begrenzenden Eingriffe. Hier einen Pferdekopf mit deutlich sichtbaren Zähnen, dem ein Ring (?) oder ein Band durch das Maul gezogen ist. Foto © Hartmut Kraft 2015 |
Künstler Von 240 eingeladenen Künstlern beteiligten sich gut zwei Drittel an der ungewöhnlichen Kunstaktion. Genau 162 Künstlerinnen und Künstler fertigten Arbeiten auf oder an den zugesandten Rezeptpapieren oder nutzen andere damit zusammenhängende Bearbeitungswege. Mehr als 200 Bilder, Objekte, Videoproduktionen und ähnliches, die als Kraft-Sammlung in den Folgejahren in mehreren deutschen Museen ausgestellt wurden, kamen zusammen.
Die Liste der beteiligen Künstler reichte alphabetisch von Marina Abramović bis Heinz Zolper. Darunter Kreative, die in den letzten zwei Jahrzehnten stark an Kunstgewicht gewonnen haben wie unter anderen Thomas Baumgärtel (mehr), Felix Droese (mehr), Per Kirkeby (mehr), Konrad Klapheck (mehr), Otto Piene (mehr), Gerhard Richter (mehr), Reiner Ruthenbeck, Klaus Staeck oder Günther Uecker (mehr).
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Techniken In einem Rückblick und Ausblick, publiziert in seinem Katalogbuch „Kunst auf Rezept“, analysierte Hartmut Kraft den Umgang der Künstler mit dem Medium Kassenrezept.
Einige Künstler bearbeiteten lediglich das Verschreibungsfeld (Ottmar Alt, Marina Abramović), andere das gesamte Formular (Felix & Irmel Droese, Alan Davie), Gerhard Richter ließ gar alles optisch verschwinden und wiederum andere wechselten das Medium, in dem sie Fotografien oder Fotokopien anfertigten (zum Beispiel Birgit Kahle (mehr), Karin Kuballa) oder ein Video aufnahmen (Sery C.).
Enrique Anseni, Thom Barth und weitere Künstler machten aus der zweidimensionalen Vorlage dreidimensionale Skulpturen. Günther Uecker schlug nicht sondern schob einen Nagel ein, ins Rezeptpapier wohlgemerkt, mit Heftpflaster rückwärtig fixiert.
Bezogen auf die Inhalte, so stellte der Autor Hartmut Kraft fest, sei von Humor bis Tod, von Liebe über Sexualität bis Politik, Religion und Initiation (fast) alles vertreten.
Katalog Allerdings sollte sein Katalog, so Kraft, kein reines Bilderbuch der eingereichten „Rezeptideen“ sein. Vielmehr solle „diese geballte Ladung an kreativen Ideen“ durch Blättern in den "Rezepten" eine potentielle Heilwirkung beim Publikum entfalten.
Die Ausstellungen sind vorbei, das Katalogbuch ist geblieben. Wenn auch nicht gleich heilend, so wirken zahlreiche Arbeiten doch in höchstem Maße amüsant, erheiternd, belebend oder bereichernd. Der Rat des Autors: „Im Falle von Unwohlsein, gar Krankheit, werden mehrmals täglich einige Augenblicke empfohlen. Zu den Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, vor allem aber die Künstler und ihr Werk.“ Und Kunst, das war schon von Joseph Beuys zu hören, sei ja schließlich Therapie.
Claus P. Woitschützke
Heinz Mack (*1931) Technik: Fotokopie und Vergrößerung; Tusche, Arcyl und Pastellkreiden. Zweifach gefaltet, signiert und datiert 20.12.98. Die Verschreibung erfolgt an „Michaela Germania“ bzw. „Regina Provincia“: „Im Falle von wiederholten Despressionen und Fallsucht. Wählen Sie nie: [es folgen grau-schwarze Farben] sondern immer: [es folgen neun Farben zwischen hellgelb und dunkelblau].“ Der Künstler Mack (mehr) schlüpft in die Rolle des Arztes und unterschreibt diese Rezeptur eines Antidepressivums an Deutschland als „Prof. Mack“. Foto © Hartmut Kraft 2015 |
► Prof. Dr. med. Hartmut Kraft (*1949) ist Psychoanalytiker mit privater Praxis in Köln, Kunstsammler, Ausstellungskurator und Autor. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu den Grenzbereichen zwischen Medizin, Psychoanalyse, Kunst und Ethnologie. Die Kraft-Sammlung „Kunst auf Rezept“ wurde in einer Ausstellungstournee durch mehrere deutsche Museen gezeigt, darunter auch im Medizinhistorischen Museum Charité in Berlin.
Buchcover |
► Die Bildbeschreibungen wurden zum Teil modifiziert und dem Katalog (siehe Literaturhinweis) entnommen.
Literaturhinweis:
Hartmut Kraft, Kunst auf Rezept, Katalog zur Sammlung und zur Ausstellung, Salon Verlag Köln, 2001, 381 Seiten, ISBN 3 – 89770 – 143 - X
Sollte das Buch vergriffen sein empfehlen wir, bei den entsprechenden Ausstellungsstationen nachzufragen. Diese waren:
Ausstellungsstationen
KUNST auf REZEPT (Sammlung Kraft),
(Katalog: Kraft, H.: KUNST auf REZEPT. Salon Verlag, Köln 2001)
Museum der Stadt Ratingen
7.10.2001 – 11.11.2001
Daniel-Pöppelmann-Haus, Herford
9.2. – 30.3.2002
Städtische Galerie Sohle 1, Bergkamen
28.4.2002 – 9.6.2002
Städtisches Museum Zwickau
29.6.2002 – 1.9.2002
Haus Oranienstrasse, Ausstellungsforum des Siegerlandmuseums, Siegen
8.9.2002 – 3.11.2002
Medizinhistorisches Museum der Charité Berlin
12. 1. 2003 – 2.3.2003
Kunsthalle Erfurt
16.3.2003 – 21.4.2003
Stadtmuseum Gütersloh
15.6. – 24.8.2003
Wilhelm-Fabry-Museum, Hilden
26.9. – 9.11.2003
Krankenhausmuseum Bremen
18.3.2006 – 30.4.2006