rheinische ART
Start | | Über uns | Anzeigen | Impressum | Kontakt | Datenschutz

rheinische ART 05/2025

GESCHICHTE
Alles begann 1919 in einem Wald


... nahe Berlin. Der Expressionist Otto Mueller, 45 Jahre alt, schuf das Gemälde Zwei weibliche Halbakte. Es folgte eine fast abenteuerliche Odyssee des Kunstwerks - und eine erfolgreiche Graphic Novel.

 

Der Besuch des Führers. "Die Arisierung der Museen muss beschleunigt werden, Goebbels... unverzüglich." Buchszene (Auszug). Bildquelle © Verlag Reprodukt Berlin 2025

 

Was hatte es mit dem Bildwerk auf sich? Das erfährt der Leser, rund 120 Jahre nach der Entstehung des expressionistischen Gemäldes, in einer spannenden, detailliert und dynamisch gezeichneten und kunsthistorisch kenntnisreich unterfütterten Bildergeschichte.

 

Buchcover Der Autor Luz stellte die übersetzte deutsche Erstausgabe jüngst im Museum Ludwig der Öffentlichkeit vor. Bildquelle © Verlag Reprodukt Berlin 2025

 

Otto Mueller Selbstportrait, um 1921. 55 x 71 cm. Leimfarbe Leinwand. Standort Kunstsammlung und Museen Augsburg. Bildquelle © Wikipedia gemeinfrei

 

Autor ist der französische Grafiker Rénald Luzier alias Luz. Das Besondere an dieser Zeichengeschichte: Sie erzählt das letzte Jahrhundert der Kunstgeschichte, mit seinen Verheerungen und ideologischen Irrungen, aus der Perspektive - und das ist das Besondere - eben dieses Gemäldes.
     Die Leser sehen und erfahren erst langsam, welche raffinierte wie ungewöhnliche Sichtweise Luz da eingenommen hat - nämlich die Betrachtung dieser Zeitspanne durch die Augen eines Bildes. Das Gemälde Zwei weibliche Halbakte bleibt für den Leser unsichtbar!
     Wen das irritiert, muss diese Grafic Novel vom Ende her beginnen. Denn erst zehn Seiten vor Schluss der unpaginierten Bilderstory findet sich das Gemälde mit dem Vermerk „Zwei weibliche Halbakte, Otto Mueller, interpretiert von Luz...“

 

Zur Geschichte selbst. Otto Mueller (1874–1930), Maler und Lithograf, später Professor an der Breslauer Kunstgewerbeschule und in der örtlichen Kunstbohème gut vernetzt, veräußerte das Gemälde an den in der schlesischen Metropole lebenden jüdischen Rechtsanwalt, bedeutenden Kunstsammler und Mäzen Ismar Littmann.

     Littmann wurde ab 1933 aufgrund seiner jüdischen Abstammung nach der NS-Machtübernahme verfolgt. Die soziale Ausgrenzung und der wirtschaftliche Ruin durch ein Berufsverbot als Jurist trieb ihn 1934 zum Selbstmord.

     Seine Nachfahren gaben das Gemälde 1935 in das Berliner Auktionshaus Max Perl. Dort wurde es jedoch vor der Versteigerung von der Gestapo konfisziert, wegen „typisch kulturbolschewistischer Darstellung pornografischen Charakters“.

    

Otto Mueller Zwei weibliche Halbakte, um 1919, Leimfarbe auf Rupfen, 87,4 x 70,6 cm. Museum Köln Inv.-Nr. ML 76/2727. Bildquelle © Museum Ludwig in Wikipedia (gemeinfrei). Das Original mit den für den Künstler charakteristischen schlanken Mädchengestalten.

 

Vorübergehend im Berliner Kronprinzenpalais, dem zuvor noch weltweit einzigartigen Hort einer grandiosen Moderne-Sammlung, eingelagert, sortierten Kuratoren es aus und zeigten es ab 1937 in München und anderenorts mit Hunderten als „Verfallskunst“ geschmähten Werken in der diffamierenden Ausstellung „Entartete Kunst“ (mehr).

     Von da an nahm Muellers Kunstwerk einen abenteuerlichen Weg durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre.

     Als es in der Schweiz 1939 von der Luzerner Galerie Fischer mangels Nachfrage nicht verauktioniert wurde, kam es nach Deutschland zurück. 1940 erwarb der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt (mehr) das Gemälde. Gurlitt wiederum verkaufte es an den Kölner Expressionismus-Sammler Josef Haubrich.

     Zwar wurde Haubrich wegen „Rassezugehörigkeit seiner Ehefrau“ aus dem Kölner Kunstverein ausgeschlossen, konnte jedoch seine umfangreiche Sammlung fast unbeschadet durch die Kriegswirren retten.

     Durch die Schenkung der Sammlung Haubrich an die Stadt Köln gelangte auch Zwei weibliche Halbakte 1946 in das damalige Kölner Wallraf-Richartz-Museum und 1976 schließlich erneut durch Schenkung in das Museum Ludwig in der Domstadt. Das Haus restituierte das Gemälde schließlich, da es als NS-Raubkunst identifiziert worden war, 1999 an Littmanns Erben. Ein Jahr später erwarb es das Museum Ludwig zurück. Dort hängt es heute noch.

 

Die Wanderausstellung. Museumsbesucher betrachten Zwei weibliche Halbakte. Buchszene. Bildquelle © Verlag Reprodukt Berlin 2025 

 

Von Haus zu Haus quasi weitergereicht wurde Zwei weibliche Halbakte – als „entartet“ eingeordnet – zum Sinnbild des Nazi-Wahns, zum Zeugen des Aufstiegs und der Machtübernahme der Nationalsozialisten, des staatlichen Antisemitismus und der Enteignung jüdischer Familien, aber auch der Diffamierung moderner Kunst in Form von Verfemung – aber dennoch auch des Überlebens.

   

Dem Zeichner Luz ist damit ein außergewöhnlicher Comic gelungen. Denn die Leser sehen nur, was sich unmittelbar vor Muellers Gemälde abspielt. Und doch entfaltet der Autor mit diesem passiven Akteur ein faszinierendes Zeit- und Gesellschaftspanorama und ruft damit auch zur Wachsamkeit gegenüber dem Aufstieg der extremen Rechten und allen Formen der politischen und kulturellen Zensur auf, wie der Verlag Reprodukt in Berlin erklärt. Die Publikation wurde in Frankreich schnell zu einem Bestseller im Comic-Genre.


Und noch etwas macht diese Bildergeschichte so besonders. Buchautor Luz ist ein Überlebender des islamistischen Anschlags auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo, die am 7. Januar 2015 Paris erschütterte und zwölf Menschen das Leben kostete. Luz war damals nur durch Zufall nicht in der Redaktion.

     Der Comic-Künstler: „Ich habe mich viel mit der Münchner Ausstellung 'Entartete Kunst' beschäftigt. Da wurden Kunstwerke buchstäblich zu Feindbildern gemacht. Darin sehe ich eine Parallele zu meinen eigenen Erfahrungen. Deshalb wollte ich die Geschichte eines der Bilder aus dieser Ausstellung erzählen, die unfreiwillig zur beeindruckendsten Zusammenstellung von Malerei des 20. Jahrhunderts geworden ist."
rART/cpw

 

 Für die Stadt Köln, vor allem für das Museum Ludwig, hat das Gemälde eine ausgesprochen große Bedeutung. Als eines der ersten Kunstgegenstände aus deutschen Museen wurde es nach den Maßgaben der Washingtoner Konferenz an die Tochter Littmanns, Ruth Haller, restituiert. Ein Jahr später gelang dem Museum die Rückerwerbung. In Köln besteht seit 2001 eine Forschungsstelle für Provenienzforschung.


Literaturhinweis
Luz Zwei Weibliche Halbakte, aus dem Französischen von Lilian Pithan. Hardcover, 192 Seiten, farbig, 20,5 x 25,5 cm, Verlag Reprodukt 2025, ISBN 978-3-95640-468-9. Preis 29 EUR

 

Das könnte Sie auch interessieren.


 ► Sammlung Haubrich. Zu neuen Ehren. Hier
 ► Alfred Flechtheim und Kurt Glaser. Restitution. Hier
 ► Düsseldorf und seine Restitutionen Heimes und Marc Hier
 Steiniger Weg zur Aufarbeitung. Max Stern. Hier

 

 


 

 

Die 
rheinische ART.
empfiehlt:

Mit GOOGLE ins Museum.


Das Google Arts & Culture Projekt zeigt Meisterwerke aus den Museen und Sammlungen dieser Welt.

► 
mehr

Und geht der Frage nach: Was ist Contemporary Art?

mehr