JUGENDSTIL
Neess an Rhein und Main
Im Jahre 2019 schenkte der Kunstsammler Ferdinand Wolfgang Neess seine grandiose Jugendstil- und Art Nouveau-Sammlung der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden. Es hätte auch anders sein können!
Blick in die Ausstellung Schenkung F.W.Neess. Bildquelle © Museum Wiesbaden Sammlung Jugendstil Österreich Foto Bernd Fickert |
Die generöse Offerte, die einen Wert von annähernd 42 Millionen Euro (taxiert) repräsentierte, hatte der Mäzen zunächst seiner Geburtsstadt Neuss am Rhein angeboten. Dort, in einer der ältesten Städte Deutschlands, hätte er sie gerne gesehen und es hätte auch werbewirksam „Neess in Neuss“ heißen können.
Doch der Rat der Stadt Neuss lehnte die Annahme des Geschenks ab – mit knapper Mehrheit, wie es damals hieß. Es war nicht nur die kunstaffine Neusser Bürgerschaft, die ob dieses Vorgangs sprachlos den Kopf schüttelte.
Fassade des Hessischen Landesmuseum für Kunst und Natur. Es ist ein Zweispartenhaus. Das dreiflügelige Museumsgebäude entstand nach Plänen des Architekten Theodor Fischer in den Jahren 1912 bis 1920. Bildquelle © Museum Wiesbaden, Foto Bernd Fickert |
In der schönen Kur- und Bäderstadt Wiesbaden, Wohnsitz des Förderers, war man auch sprachlos: vor Glück! Eine so große Gabe sei eine Art Güte des Schicksals, hieß es im Hessischen Landesmuseum für Kunst und Natur. Nie zuvor habe es in der rund 200-jährigen Geschichte des Hauses eine derart großzügige Schenkung gegeben.
Alphonse Mucha Büste La Nature, um 1899. Schenkung F.W.Neess. Bildquelle © Foto Museum Wiesbaden Bernd Fickert
Ausstellungsansicht, Schenkung F.W.Neess. Bildquelle © Foto Museum Wiesbaden Bernd Fickert
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Mit einem Schlag katapultierte sich Hessens Hauptstadt damit in die Reihe der führenden europäischen Jugendstilstädte Paris, Brüssel und Wien. „Seit 29. Juni 2019 ist Wiesbaden auf der Landkarte des Jugendstils nicht mehr wegzudenken“, jubelte Kustos Peter Forster seinerzeit.
Und nicht nur das. Mit der Schenkung hat Wiesbaden seither neben Bad Nauheim und der Mathildenhöhe in Darmstadt einen dritten schwergewichtigen Schauplatz der Jugendstil-Epoche. Ohne Übertreibung kann sich die Hessen-Metropole damit als der führende Jugendstil-Standort Deutschlands bezeichnen.
Die nunmehr über 100 Jahre alte Kunstrichtung, manchen besser bekannt unter dem Namen Art Nouveau, war eine revolutionäre Sache. Sie begeisterte Kunstschaffende bis etwa 1910 vor allem in Westeuropa.
Mit ihren Werken wandten sich die Kreativen gegen den Historismus, der historische Stile wie den Barock oder die Renaissance nachahmte, sowie gegen Industrialisierung und Massenproduktion. Die Natur diente ihnen dabei oft als Vorbild. Organische Formen, geschwungene Linien sowie dekorative Elemente waren stilgebend.
Die über 500 Objekte aus der Neess- Kollektion bilden einen Querschnitt durch alle Gattungen des Jugendstils und führen beispielhaft vor, in welcher Qualität und Stilhöhe die Kunst des ausgehenden 19. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts auftrat.
Ausstellungsansicht Möbelensemble, Schenkung F.W.Neess. Bildquelle © rheinische ART 2025 |
Das Museum Wiesbaden bespielt die Sammlung von F.W. Neess seither als dauerhafte Präsentation im Südflügel des Hauses. Die Ausstellung zeigt unter anderem 63 Gemälde, Pastelle und Aquarelle, die von Künstlern aus ganz Europa geschaffen wurden. Namhafte Vertreter sind von Franz von Stuck (mehr), Heinrich Vogeler, Gustave Moreau (mehr) und Alphonse Osbert.
Völlig andere Sichtweisen bieten die kompletten Möbelensembles von Bernhard Pankok und Emile Gallé sowie zahlreiche Dekors wie Vasen, Skulpturen, Lampen und Keramiken. Ein Raum widmet sich der Pariser Weltausstellung von 1900, auf der bereits viele der Objekte zu sehen waren.
Bruno Zach (1891-1945) Der Reigen. Bronze patiniert. Schenkung F.W.Neess. Bildquelle © rheinische ART 2025 |
Wer sich einer Führung durch die Sammlung anschließt, kann quasi „durch die Blume“ erfahren, warum diese einzigartige und millionenschwere Kollektion im hessischen Rhein-Main-Gebiet eine Heimat gefunden hat und nicht am Niederrhein.
Die Stadt Neuss habe die Schenkung, die an das städtische Clemens Sels-Museum gerichtet war, aus verschiedenen Gründen abgelehnt, heißt es kryptisch. Vulgo: Sie hätte es sich finanziell nicht leisten können – oder vielleicht auch nicht leisten wollen.
Denn es hätte für die Quirinusstadt auch eine deutliche Bauerweiterung des Clemens Sels-Museums bedeutet. Wobei die Neess-Schenkung durchaus als eine jugendstilistische Frischzellenkur für das Mehrspartenhaus angesehen werden konnte, wenn man es denn sehen wollte. Eine Bereicherung der niederrheinischen Kunst- und Kulturszene und natürlich der Stadt Neuss war also vertan!
Vorbei ist vorbei! Dabei gab es über 100 Jahre zuvor in der geschichtsträchtigen Rheinstadt ein Beispiel für Bürgersinn, Weitsicht, Kunstverständnis und Privatinitiative, dem weitere folgen sollten.
Der Neusser Industrielle Clemens Sels und seine Ehefrau Pauline – Namengeber des heutigen Museums – vermachten testamentarisch 1908 der Stadt eine Viertelmillion Mark zum Bau eines städtischen Museums – „geeigneten Falles in Form eines griechischen Tempels“. Viel Geld für die damalige Zeit. Es wurde im August 1912 eingeweiht.
Blick in die Ausstellung Schenkung F.W.Neess. Hinten Gemälde Franz von Stuck, Sphinx. Öl auf Leinwand 1904. Bildquelle © rheinische ART 2025
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Zusätzlich erhielt die Stadt von der kunstbegeisterten Familie eine umfangreiche Kunstsammlung. Sie wurde zur Basis für die großartigen Schaustücke des Hauses mit Gemälden der Nazarener, Präraffaeliten und Symbolisten Frankreichs, Belgiens und der Niederlande. Ferner existiert ein umfangreicher Bestand an Werken der Rheinischen Expressionisten und der Modernen Primitiven (mehr).
Im Wiesbadener Landesmuseum ist man sich des kolossalen Wertes der Objekte und ihrer Wirkungen bewußt und weiß: „Sowas passiert einmal in der Geschichte eines Hauses!“ Für Kunstkenner und standortbewußte Raumplaner ist es ein Lehrstück darüber, was einem entgehen kann, wenn Schenkungen ausgeschlagen werden. Fazit: Diese fantastische Sammlung in Wiesbaden ist einzigartig und jeden Euro des Eintritts wert.
rART/cpw
► Dass der Förderer F.W. Neess dem Museum Wiesbaden eine der bedeutendsten europäischen Privatsammlungen des Jugendstils und des Symbolismus überlies, sei „Verpflichtung, sie zu erhalten, zu zeigen und zu erinnern, wem wir diesen Kunstgenuss zu verdanken haben“, heißt es in der Presseerklärung der Landesregierung. Und: „Diese Kunstwerke werden noch viele künftige Generationen beeindrucken.“
Hessisches Landesmuseum für Kunst und Natur
Friedrich-Ebert-Allee 2
65185 Wiesbaden
Tel 0611 3352250
Öffnungszeiten
DI – SO 10 – 17 Uhr
DO 10 – 21 Uhr