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rheinische ART 03/2021

Archiv 2021

ARCHITEKTUR
Sanierung einer 60er-Ikone


Die Nachkriegsmoderne in Deutschlands Architektur ist eine Zeit des Betons, keine Frage. Aber es wurde nicht überall uniform grau und gestalterisch eintönig gebaut.

 

Die Marler Rathaustürme - ein Sanierungsfall; sie wurden als Hängehochhäuser entworfen, die ersten ihrer Art in Deutschland. Bei dieser Bauform werden die Geschosse nicht am Boden abgestützt, sondern vom Dach abgehängt. Der prestigeträchtige Gebäudekomplex steht am Creiler Platz, benannt nach der französischen Partnerstadt Creil. Foto © LWL Dietrich Hackenberg

 

Marls City ist ein bemerkenswert gut erhaltenes Beispiel dafür, wie kreativ die Bau-Moderne sich im urbanen Raum der deutschen Wirtschaftswunderjahre präsentierte und die Optik der Städte prägte.

 

In die Jahre gekommen Bröckelnder roher Sichtbeton und schadhafte Mosaiksteine: marode Sitzbank auf dem Creiler Platz. Foto © rheinische ART 2021

 

Waren Sie schon mal in Marl? Möglicherweise wegen des Grimme-Preises? Oder wegen des Parks und des Skulpturenmuseums Glaskasten? Vielleicht gar wegen des Rathaus-Ensembles am Creiler-Platz?

     Die Stadt am Nordrand des Ruhrgebietes bietet einen ungewöhnlichen Blick auf die Architektur-Moderne der 1960er Jahre. Es ist ein Blick in die Welt des béton brut, wie sie der große Weltbaumeister Le Corbusier (mehr) propagierte, der urbanen Großzügigkeit und der Idee vom „Städtischen Leben im Grünen“.

 

Kürzlich haben die Instandsetzungen an der denkmalgeschützten Bausubstanz des Marler Rathauses, diesem in Deutschland ziemlich einmaligen Gebäudekomplex, begonnen. Der Grund: Die vor über 60 Jahren errichteten Bauten und betonierten Elemente sind überaltert, marode und ein heftiger Sanierungsfall.

     Derzeit wird mit einem Aufwand von 70 Mio. Euro gerechnet. Das Düsseldorfer Architekturbüro HPP (mehr) leitet als Generalplaner das umfangreiche Projekt, das 2024 abgeschlossen sein soll.

     Die Gebäudegruppe mit den zwei Hängehochhäusern, einer seinerzeit völlig neuen Bauweise, sowie der Zentraltrakt werden saniert, haustechnisch erneuert und zu einem "sozialen Rathaus" umgestaltet.

 

Ein filigranes Stahl-Glas-Haus in der transparenten Formensprache der 1950er Jahre. Es stammt von dem Architekten Günther Marschall, wurde 1955 eingeweiht und vom Bildungswerk „die insel“ als erste Volkshochschule (VHS) Deutschlands genutzt. Der Bau ist seit 1977 Sitz des Adolf-Grimme-Instituts. Foto © rheinische ART 2021

 

„Les fleurs du mal" (Die Blumen des Bösen) heißt es an der Fassade der Sitzungshalle, über dem Museum und der Freitreppe zum Standesamt – eine Installation des Lichtkünstlers Mischa Kuball, der den Titel des Gedichtzyklus von Baudelaire mit dem Wortspiel Blumen für Marl verbindet. Foto © rheinische ART 2021

 

Aus denkmaltechnischer Sicht verwaltet die rund 85.000 Einwohner zählende Stadt ein großes Erbe. Denn die dort versammelten Bauwerke der Moderne suchen in Deutschland ihresgleichen.

     Die Stadtmitte am Creiler Platz mit dem Rathauskomplex – einschließlich des später eröffneten Skulpturenmuseums Glaskasten unterhalb des Ratsraumes – stammt von dem niederländischen Stararchitekten-Duo van den Broek und Bakema aus den Sechzigern und sorgte international für Schlagzeilen.

     Die Rotterdamer Baumeister hatten ein Ensemble entworfen, bestehend aus einem repräsentativen Sitzungssaal als Treffpunkt von Politik und Bürgerschaft, einem Zentralgebäude für die kommunalen Dienstleistungen sowie zwei Dezernatstürmen. Alles in allem ein „Symbol demokratischer Baukultur“, wie es bis heute heißt.

 

Unité d’habitation von Le Corbusier in Marseille (1945). Sie war der Versuch, zeitgemäßes Wohnen zu entwickeln, um die Bedürfnisse des Einzelnen mit dem Leben in der Gemeinschaft in Einklang zu bringen. Fotoquelle © info.marseille-tourisme

 

Carl Fredrik Reuterswärd (CFR) Non Violence, 1995-1999, Bronze-Skulptur. Verknoteter Lauf einer Pistole als universelles Symbol gegen jede Form von Gewalt. Foto © rheinische ART 2021

 

Daneben liegt das 1955 fertiggestellte Gebäude des Grimme-Instituts, das als ein Paradebeispiel für die offene Bauweise der Nachkriegsmoderne gilt und gleichzeitig das erste Bauwerk für Erwachsenenbildung in Deutschland war.

     Am Creiler Platz liegen ferner das große Einkaufszentrum „Marler Stern“ von 1974 mit seiner einzigartigen Luftkissen-Bedachung und zwei Hochhaus-Riegel. Letztere können ihre Verwandtschaft mit der von Le Corbusier in Marseille errichteten berühmten Unité d’habitation (Wohneinheit) kaum leugnen. Somit sind sie typische Produkte ihrer Zeit.


Auffällig ist im Übrigen die Anzahl hochklassiger Skulpturen, die sich zwischen den Gebäuden und im umgebenden Stadtpark verteilen und zum Zentrum hin an Dichte zunehmen. Kunst quasi an jeder Ecke! Die Werke stammen teilweise noch aus der Zeit vor der Einweihung des modernen Rathauses.

     Einige Straßen weiter südlich der Mitte ragen die denkmalgeschützten Hügelhäuser von Faller und Schröder (1966–68) auf und schließlich ist die Volksschule von Hans Scharoun in der Westfalenstraße zu nennen, die Ende der Siebzigerjahre eingeweiht wurde.

     Die als „Scharounschule“ bezeichnete Einrichtung besticht durch „organisches Bauen“, das sich in vielfältigen Gebäudestrukturen mit natürlichen und teils unregelmäßigen Formelementen im Innern wie Äußeren, warmen Farbtönen und der Verwendung vorrangig natürlicher Materialien zeigt. Alle Marler Gebäude jener Phase sind Zeugnisse einer Zeit expansiven Bauens im Stil der Moderne.

 

Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff Naturmaschine; 1969, Chromnickelstahl, Foto © rheinische ART 2021

 

Die Stadt Marl galt in den Nachkriegsjahren als prosperierende Kommune, auf Kohle und Chemie bauend. Die Gewerbeeinnahmen sprudelten, die Etats waren gut gefüllt und für die Planung einer neuen City auf der „grünen Wiese“ konnten daher auch namhafte Architekten aus ganz Europa eingeladen werden.

     Zu ihnen gehörten Arne Jacobsen aus Dänemark, der Finne Alvar Aalto oder Hans Scharoun als bedeutendster Vertreter der organischen Architektur.

     Den Zuschlag für das Rathaus erhielten Johannes Hendrik van den Broek und Jacob Berend Bakema. Die Erwartungen seitens der Marler Stadtoberen und der Bürger waren hoch. Es sollten nicht nur funktionierende Verwaltungsbauten errichtet werden. Vielmehr galt es, einen „architektonischen Ausdruck einer demokratischen Gemeinschaft“ zu gestalten. Die Gebäude sollten die Bürgerschaft vereinen und den gewünschten Großstadtstatus bekräftigen.

     So ganz erfüllten sich die Träume dann doch nicht. Geblieben sind auf jeden Fall einzigartige Baurelikte einer Zeit des Aufbruchs, in der man andernorts auch zu den Sternen greifen wollte.
cpw


Projektort:
Rathaus Marl
Stadtverwaltung

Bergstr. 228
45768 Marl
Tel. 02365 / 990

 

 

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