rheinische ART
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rheinische ART 04/2021

Archiv 2021

ESSEN UND KUNST
Geleimte Leckereien


Lebensmittel heißen so, weil sie dazu da sind, Leben zu erhalten. So einfach! Aber Kunstwerke aus übriggebliebenem Brot, Lebkuchen oder Schokolade? Resteverwertung für Kunst also? In Wien zeigt eine Schau den Universalkünstler Daniel Spoerri, den Erfinder der Eat Art.

Senkrecht: Daniel Spoerri Restaurant de la City Galerie, 1965 Assemblage auf Holz, Ø 115 × 20 cm Bischofberger Collection, Männedorf-Zurich, Switzerland © Daniel Spoerri und Bildrecht Wien, 2021

 

Rechtzeitig zu dessen 91. Geburtstag ist eine große Retrospektive, erstmals wieder seit 30 Jahren und mit über 100 Arbeiten, im Bank-Austria-Kunstforum zu sehen und als Hommage zu verstehen. Sie verdeutlicht die große Breite von Spoerris Schaffen über sieben Jahrzehnte. „Handlanger des Zufalls, das könnte meine Berufsbezeichnung sein“, hat der Schweizer 1961 einmal von sich gesagt. Man muss sich noch einmal vergegenwärtigen, um wen und was es hier geht.

 

Senkrecht: Daniel Spoerri Tableau piège – Sevilla Serie Nr. 16, 1991 Assemblage aus Porzellan, Holz, Stahl, Papier, organische Reste und Glas, 80 × 160 × 40 cm Museum of Contemporary Art in Krakow MOCAK © Daniel Spoerri und Bildrecht Wien, 2021 Foto: MOCAK Collection, photo: R. Sosin 

 

Portrait Daniel Spoerri Foto © Rita Newman

 

Senkrecht: Daniel Spoerri Frühstückstablett, Selbstbedienungsrestaurant, Paris, 1966 Assemblage aus Holz, Porzellan, Papier und diversen Gegenständen, 14,5 × 70,7 × 44,7 cm Kunstpalast, Düsseldorf © Daniel Spoerri und Bildrecht Wien, 2021 Foto: © Kunstpalast - Horst Kolberg – ARTOTHEK

 

Daniel Spoerri stammt aus Rumänien. Er wurde in Galati, der letzten Binnenhafenstadt vor dem Donaudelta, am 27.3.1930 als Daniel Isaac Feinstein geboren. Nach der Flucht aus seiner Heimat 1942 wuchs er in der Schweiz bei seinem Onkel auf und nahm dessen Nachnamen an.
     Berühmt wurde er – nach einer mäßigen Karriere als Tänzer, Theatermann und Zeitschriftengründer – mit seinen sogenannten „Fallenbildern“ in den 1960er Jahren, die er als Mitgründer der französischen Künstlergruppe Nouveau Réalisme etablierte.

 

„Fallenbilder“ (frz. Tableaux pièges) sind Assemblagen, die aus beliebigen Speiseresten und Esstischkram, wie etwa leere Flaschen oder schmuddeliges Geschirr, bestehen und die Spoerri mit Leim und Konservierungsstoffen auf Tischplatten befestigte.

    Das Ergebnis sind dreidimensionale Momentaufnahmen aus dem Alltag - und nicht jedermanns Sache. Nach der Fixierung wurden die Hochreliefs aufgehängt, gelangten somit von der Waagerechten in die Senkrechte. Ihr geistiger Vater, eben der Objektkünstler Daniel Spoerri, stülpte ihnen den Begriff Eat Art über.

 

Der Künstler versteht seine Werke selbst als eine Art „dreidimensionale Stillleben“, als „konservierten Alltag“. Möglicherweise orientierte er sich seinerzeit an dem höchst umstrittenen wie populären Zeitgenossen und Kunst-Guru der Düsseldorfer Kunstakademie, Joseph Beuys. Der hatte schließlich den genialen wie epochemachenden Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ in die Welt gesetzt und hantierte mit Filz und Fett (mehr).

     Ein kulinarisches Experimentier- und Wirkungsfeld für Spoerri war Düsseldorf, in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts einer der führenden globalen Hotspots für Avantgarde-Kunst.

     Dort hatte der Koch und Gastronom Spoerri 1968 das Restaurant Spoerri am Burghof 18 eröffnet. Es war das erste Speiselokal, in dem Kunst und Kulinarik als „Ess-Kunst“ auf der Menükarte standen. Der Meister kochte und ließ servieren, was selbst der rheinischen Kunst-Schickeria neu war: eine „cuisine exotique“ mit Seehundragout oder Klapperschlange. Die Reste davon gingen als plastische Objekte auf die Grundplatte und als Wimmelbilder à la Spoerri in die Senkrechte.

     Zwei Jahre später richtete er in Düsseldorf die „Eat Art Gallery“ ein, Leiterin war die Galeristin Hete Hünermann (1939–2001), Schwester der Kulturmäzenin Gabriele Henkel. Das Besondere an dieser Galerie: Alle Kunstgegenstände mussten sich mit Kochen und Essen auseinandersetzen oder noch besser: essbar sein. Das Haus existierte bis 1972 und präsentierte nicht nur Spoerris eigene Eat Art-Objekte sondern auch Arbeiten von Roy Lichtenstein und Joseph Beuys.

 

Gerahmt: Daniel Spoerri Brotteigobjekt (Damensandale), 1970/1971 Brotteigobjekt, 24,3 × 37 × 12,3 cm Kunstpalast, Düsseldorf © Daniel Spoerri und Bildrecht Wien, 2021 Foto: © Kunstpalast - Horst Kolberg - ARTOTHEK

 

War das alles neu? Irgendwie schon. Zwar war der Schweizer nicht der erste, der organische Reste und Flohmarkttrödel in den Kunstkontext einbrachte. Zeitgenössische Kreative wie der italienische Konzeptkünstler Piero Manzoni, der Happening-Erfinder Allan Kaprow, der „Vergänglichkeitskünstler“ (Spiegel 2015) und Schimmelmuseum-Gründer Dieter Roth (mehr) und die Fluxusleute (mehr) hatten Essbares auch als Kunstobjekt für sich entdeckt.

 

Waagerecht: Daniel Spoerri Chambre No 13, 1998 Bronze, 2,5 x 3 x 5 m Fondazione Il Giardino di Daniel Spoerri © Daniel Spoerri und Bildrecht, Wien 2021 Foto: © Susanne Neumann


Spoerris-Esskunst stand in der Tradition von Spätkubismus und Dadaismus. Dennoch ging er neue Wege und setzte sich mit der gesellschaftlich-sozialen Bedeutung des Essens auseinander. Aus Mahlzeiten mit Knäckebrot, Donuts und Frühstücksei entstand Kunst, eine künstlerische Untersuchung von „Ewigkeitswert, Verdaulichkeit, Veränderungen der Kunst, Kunst als Konsumgut“ wie es in Wien heißt.      Und in dieser Untersuchung des Alltäglichen, nämlich den banalen Lebensmitteln und ihre Verankerung in der Sphäre der Kunst, stellte Spoerri – anknüpfend an das Objektverständnis Marcel Duchamps (mehr) und dessen Konzeption des Readymade – Wahrnehmungskonventionen radikal auf die Probe. Der Künstler wurde zum Konservator des Zufalls, aber „Herr des Verfalls und des Schimmels“ sei er nie geworden, wie es anlässlich einer Schau in München einmal hieß.
rART/cpw


Die Ausstellung Daniel Spoerri Retrospektive ist bis 27. Juni 2021 zu sehen.
Bank Austria Kunstforum Wien
Freyung 8
1010 Wien / Austria
Tel (+43 1) 537 33 26
Öffnungszeiten:
Täglich 10 – 19 Uhr


Zitation: Katalog zu „Daniel Spoerri presents Eat-art“ im Aktionsforum Praterinsel, München, 2001, S.15


 

 

 

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