rheinische ART
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rheinische ART 12/2011

Archiv 2011: aus "Kultur-Orte"

Das „Kultur-Biotop“ Raketenstation Hombroich

Erst Kalter Krieg - später Kunst

 

 

Eine markante Landmarke der Raketenstation ist die Skulptur Begiari von Eduardo Chillida

 

Sie gilt nicht nur bundesweit sondern auch international als eine der bemerkenswertesten, eigenwilligsten und faszinierendsten Kunst- und Kultureinrichtungen: die Raketenstation. Unweit des „Museums Insel Hombroich“, auf einem offenen, landwirtschaftlich genutzten Plateau zwischen den Rheinstädten Düsseldorf und Köln und vor den Toren von Neuss gelegen, ist das Relikt des Kalten Krieges heute ein Architekturpool und Experimentierfeld für Kunstprojekte, alternative Lebensformen und agrare Nutzungsmethoden.

 

 

RAKETENSTATION: der Name ist im Wortsinne zu nehmen, denn wo noch vor wenigen Jahrzehnten Abwehrraketen in Bunkern getarnt lagerten, hat heute mit Kreativität eine ganz andere Nutzung Heimat genommen: Kunst und Kultur – parallel zur Natur. Nicht mit kleinkariertem Denken konnte dies erreicht werden, sondern mit der Entschlossenheit, Visionen Raum zu geben.

 

Die Geschichte

 

NATO-Station, Zustand 1993

Alles begann im Jahre 1962, in der Hochzeit der eskalierenden west-östlichen Rivalität, des Kalten Krieges und des atomaren Rüstungswettlaufs. Nachdem belgische Militärstreitkräfte im Rahmen von NATO-Planungen zunächst eine Kaserne für 300 Soldaten in der Region errichteten, begann in direkter Folge auf einer Anhöhe in unmittelbarer Nähe bei Hombroich der Bau der Raketenstation. 1967 wurde diese im Auftrag der Amerikaner von einem belgischen Raketengeschwader in Dienst genommen. Von da an war dieser idyllische Flecken rheinischer Erde Teil des kontinentalen NATO- Luftverteidigungsgürtels vom Nordkap bis zur Türkei. Finanziert von der Militärgemeinschaft (Kosten seinerzeit: 60 Mio. DM), gebaut vom Finanzbauamt Mönchengladbach auf einer Fläche von 13 Hektar.

 

Adeliger Landbesitz

 

Ein Relikt aus früherer Zeit. Der Turm beherbergt  heute das Archiv Thomas Kling

Die Militärbasis, die wie alle vergleichbaren Verteidigungsanlagen jener Zeit auf keiner Landkarte und keinem amtlichen Bebauungsplan zu finden und in der Bevölkerung auch wenig bekannt war, wurde auf den Ländereien eines Zweiges der westfälischen Adelsfamilie von Papen errichtet. Der ehemalige Zentrumspolitiker Franz von Papen (1879-1969) war 1932 zum Reichskanzler ernannt worden und von 1933 bis 1934 Vizekanzler im ersten Kabinett von Adolf Hitler. Die Familie veräußerte die erforderlichen Flächen an die Bundesvermögensverwaltung, die diese den NATO-Mitgliedern überantwortete. Für rund 23 Jahre, bis zum Abzug der amerikanischen Soldaten aus der Kaserne und der Raketenstation 1990, diente der Militärkomplex der Abschreckung und der Landesverteidigung. Die Leitstelle und ihre drei Abschussbasen waren mit allen anderen Raketenbatterien der NATO „vernetzt“, ihr Radarsystem erfasste im Umkreis von 16 km sämtliche Flugbewegungen. Auf dem Höhepunkt des militärischen Säbelrasselns war diese rheinische Raketenstation mit Cruise-Misile-, Pershing- und Fliegerabwehrraketen ausgerüstet.

 

Deeskalation und Umnutzung

 

Nur 10 % der Fläche darf bebaut werden. Die Flora darf sich ihres Freiraums bemächtigen

 

Der Klostergarten. Ein idyllischer Ort

 

Kirschblüte bei der Langen Foundation

 

Äußere Umgestaltung einer Bunkeranlage: Die "Tafelrunde"

Kunst parallel zur Natur

Skulpturengruppe "Zwischenräume"

 

Als Folge der Abrüstungsverträge zwischen den USA und der Sowjetunion und der vereinbarten Vernichtung von Mittel- und Langstreckenraketen begann 1985 der Abzug der belgischen Besatzung aus der Raketenstation. Sämtliche militärischen Einrichtungen wurden von amerikanischen Einheiten demontiert oder vernichtet; 1990 schließlich waren die stationären Abschreckungswaffen und auch die letzte Schraube endgültig verschwunden. Zurück blieb ein karges Gelände mit niedrigen Zweckbauten. Was damals allgemein als völlig undenkbar galt und nicht selten auf verständnisloses Kopfschütteln stieß, war die nun folgende bahnbrechende Entscheidung des Düsseldorfer Sammlers, Mäzens und Maklers Karl-Heinrich Müller. Der Visionär und Kunstfreund kaufte 1994 das verwaiste Areal.
    Zwölf Jahre zuvor hatte Müller nur wenige hundert Meter entfernt in der Flußaue der Erft ein Eiland erworben, das er als Auenlandschaft rekultivierte und das unter der Bezeichnung „Museum Insel Hombroich“ seine große und kostbare Kunstsammlung beherbergte.
    Zügig begann Müller mit der Umnutzung der ehemaligen Baracken und Raketenhallen zu Künstlerateliers und Wohnräumen. Seine Vision: Die Raketenstation sollte ein Kulturraum werden mit einer Architektur, die dem Begriff „Wohnen“ im Zusammenhang mit „Leben“ neue Inhalte ermöglichte. Eine Verbindung beider Kulturareale sollte unter dem Leitmotiv „Kunst parallel zur Natur“ erfolgen. Schon 1995 entstand auf dem alten Militärterrain das „One-Man House“, ein Gästehaus für Literatur nach Entwürfen des japanischen Malers und Skulpteurs Katsuhito Nishikawa (*1949) und des Düsseldorfer Kunst-Professors Oliver Kruse (*1965).

   In den Jahren 1996/1997 wurde das ungewöhnliche Areal in den Besitz der zwischenzeitlich gegründeten „Stiftung Insel Hombroich“, die von der Landesregierung Nordrhein-Westfalens unterstützt wird, überführt. Seither bilden diese beiden „Kulturpunkte“ den heute als „Kulturraum Hombroich“ bezeichneten, sehr speziellen und berühmten Kristallisationspunkt im Rheinland.

 

Entwicklung bis heute

 

Zahlreiche architektonisch ungewöhnliche Gebäude und Einrichtungen konnten seit Ende der 90er Jahre auf der ehemaligen Militärbasis errichtet werden. 1999 war der 1. Bauabschnitt des Tadao-Ando-Projektes, die Eingangswand, fertig. In schneller Folge wurde die Baumüller-Skulptur (1998), das Hofmann Lehmhaus, der Fontana-Pavillon, Seminargebäude und Gästewohnungen nach Entwürfen von Erwin Heerich (mehr) installiert. 2001 entstand das Field-Institut Hombroich, eine Seecontainer-Installation, die als Ausstellungsraum für Gegenwartskunst dient (mehr).

 

 

Das Kunst- und Ausstellungshaus Langen Foundation

 

Das Musikerhaus von Raimund Abraham (1933 - 2010) wartet noch auf seine Fertigstellung

 

Alvaro Siza entwarf das Forum für räumliches Denken

    Markante Landmarke ist seit der Jahrtausendwende die rund 15 Meter hohe Betonskulptur „Begiari“ des baskischen Bildhauers und Zeichners Eduardo Chillida (1924-2002). Sie säumt den Weg von der Raketenstation zum „Museum Insel Hombroich“. Diesem folgend erreicht der Besucher das Kirkeby-Feld mit verschiedenen Bauten, zu denen auch das Feld-Haus (mehr) als Dependance des Neusser Clemens-Sels-Museums gehört. Erst jüngst wurde auf dem anschließenden Gelände eine typisch rheinische Obstwiese gepflanzt (mehr) und das Grundstück gegenüber, derzeit noch ungenutzt, von dem Düsseldorfer Künstler Thomas Schütte erstanden.

   Das großartige Kunst- und Ausstellungshaus der Langen Foundation, für das der Pritzker-Preisträger Tadao Ando verantwortlich zeichnet, beherbergt die bedeutende private Kunstsammlung von Viktor und Marianne Langen. Das architektonisch so herausragende Gebäude kann und soll die kulturelle Ästhetik seines japanischen Architekten nicht verleugnen, der es geschafft hat, in seinen architektonischen Entwürfen die Eigenheiten, die Besonderheiten der Umgebung in einzigartiger Weise aufzugreifen und umzusetzen. Das Ausstellungshaus wurde 2004 eingeweiht. Im selben Jahr konnten ferner Einrichtungen von Per Kirkeby, Ursula Schulz-Dornburg, Morris Louis u.a. übergeben werden, die später im Projekt „RaumOrtLabor“, ein Versuchsort für Architektur, bekannt wurden.

 

Luftbild der Raketenstation Hombroich Foto: Rhein-Kreis Neuss


In diesem Kontext ist auch das Gebäude, in dem heute das Architektur-Museum als Forum für räumliches Denken untergebracht ist und das von Alvaro Siza (mehr) entwickelt wurde, zu sehen. Siza war von Müller gebeten worden, ein Gebäude zu entwerfen. Es war für den portugiesischen Star-Architekten und Pritzker-Preisträger ein höchst ungewöhnlicher Auftrag, ein Gebäude zu entwickeln, dem erst einmal keine Nutzungsbestimmung zugrunde liegen sollte. Auch Siza ließ sich auf die Landschaft ein und integrierte ein Gebäude, dass dem Begriff Wohnqualität eine völlig neue Dimension gibt. 2006 war der Baubeginn des Musikerhauses des Österreichers Raimund Abraham. Das Haus ist noch nicht fertig, aber es dürfte wegen seiner Größe und Ungewöhnlichkeit einen prominenten Platz auf der Raketenstation einnehmen.
    Immer stärker tritt die ehemalige Militärbasis quasi als „künstlerisches Biotop“, als Ort einer visionären Parallelentwicklung von Kultur und Natur, international in Erscheinung und zieht zahlreiche Kunstinteressierte und aktive Künstler unterschiedlicher Disziplinen in ihren Bann. Müllers Vision, der Hombroich als offenen Versuch verstand, ist dabei, Realität zu werden.

Claus P. Woitschützke


Stiftung Insel Hombroich
Raketenstation
41472 Neuss
Tel. 02182 – 2094


 

Die Daten zur Historie der Raketenstation sind von F. Petzold, Insel Hombroich, zusammen gestellt worden.

 

© Fotos Stiftung Insel Hombroich (2), Langen Foundation (1), Rhein-Kreis Neuss (1), rheinische ART. (8)

©rheinische-art.de

 

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