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rheinische ART 10/2014

Archiv 2014

LVR: 1914 – MITTEN IN EUROPA
Der Sturz des Adlers

 

Es ist auch ein sprichwörtlicher Blick in den Abgrund. In den mächtigen Trichtern tobt Krieg. Man sieht die Granaten einschlagen und riesige Krater reißen, Spiralen von Stacheldrähten bewehren schlammige Schützengräben, aus apokalyptischen Nebelschwaden steigen Soldaten mit Gasmasken gleich Aliens. Es ist, als ob man den Männern im Kampf über die Schulter schaut. So nah kommt man dem Scharmützel; und steht doch an einer sicheren Balustrade, kann sich festhalten, kann weggehen. Der Krieg, den man erblickt, ist 100 Jahre alt. Erster Weltkrieg. 1914. Vergangen.

 

Plakat (Ausschnitt) zur Ausstellung "1914 - Mitten in Europa" auf Zeche Zollverein in Essen

 

Ort des kineastischen Geschehens ist die Mischanlage der Kokerei der Zeche Zollverein, ein gewaltiges Gebäude, dass eigens für die Erinnerungsausstellung „1914 – Mitten in Europa“ des LVR reaktiviert wurde. Ist es eine Vergangenheit, die uns nichts mehr angeht? Der LVR Landschaftsverband Rheinland widmet sich dem Thema ausgiebig. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg titelt das immense Verbundprojekt. Geboten wird eine umfassende Retrospektive auf die Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg und sie soll bis in den Sommer 2015 dauern. Was vor zwei Jahren als ungemein vielschichtiger Erinnerungsmarathon geplant wurde, zeigt heute inhaltlich eine erschreckend aktuelle Szenerie und verlangt, ja provoziert, einen neuen Blick auf die Geschehnisse vor 100 Jahren.

 

Blick in die Ausstellung auf der Bunkerebene der Mischanlage, Fotograf Michael Rasche

 

Die Publikumsschau „1914 – Mitten in Europa“ ist die zentrale Ausstellung der bis ins kommende Jahr gebotenen 12 Erinnerungsexpositionen. Der gewählte Ort - die Kokerei der Zeche Zollverein - ist nicht allein ein temporär überwältigendes, faszinierendes Ausstellungshaus. Es hat selbst bereits Erinnerungswert, denn das Areal ist ein wieder erwachter, mächtiger Zeuge einer hochstehenden, modernen Industriekultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit dazu beitrug, dass dieser Krieg zum ersten wurde, der die Massenvernichtung möglich machte. 

     Die Schau bietet einen Einblick in die Zeit des "Aufbruchs in die Moderne in der industriellen Herzkammer und Waffenschmiede des Deutschen Reiches“, informieren die Ausstellungsmacher. „Das Rheinland ist die europäische Region, in der sich die Ambivalenzen jener Epoche wie in einem Brennglas gebündelt haben: Grenzland und Transferregion, Waffenschmiede und Zentrum moderner industrieller Kultur, Treffpunkt der europäischen Avantgarden (mehr) und Projektionsfläche nationaler Mythen“, schreibt der LVR weiter dazu.

 

Ein Fahrrad und ein 680er Zweizylinder Motorrad mit weißwandigen Reifen der Marke Allright, 1910, Leihgeber: Horst Nordmann, Foto rART

 

Das rheinisch-westfälische Industriegebiet entwickelte sich damals zur führenden Industrieregion Europas. Deutsche Ingenieurskunst erstaunte die Welt, die Forschung erlebte eine Blüte, deren Ergebnisse noch heute unser Leben mitbestimmen. Die Gesellschaft erlangte trotz ökonomischer und sozialer Widersprüche einen bescheidenen Wohlstand, das Bürgertum machte sich Gedanken über die Freizeitgestaltung, das Automobil ließ Entfernungen schrumpfen und Zeit gewinnen. Schneller, höher, weiter, größer ... das wilhelminische Reich blühte auf und die Gesellschaft wandelte sich in dem Maße, wie sich durch technische Neuerungen ungeahnte Möglichkeiten boten. 

     Es sollten die letzten Jahre des Kaiserreiches sein, denn dann brach die als „Urkatastrophe“ bezeichnete politische und kriegerische Auseinandersetzung mit den Nachbarländern aus, die sich zu einem Weltenbrand entwickelte.

 

Propagandaplakat der Aktion "Gold gab ich für Eisen", Plakat von Julius Gipkens, um 1918 (aus LVR-Katalogbuch zur Ausstellung S. 182)

 

Worte und noch mehr Erklärungen haben Historiker und Rezensenten für die „Urkatastrophe“ bereits viele gefunden. „Wenn die Börse das lebendige Herz des Kapitalismus ist, dann hatte es aufgehört zu schlagen“, vermerkt Daniel Eckert in der Welt am Sonntag vom 13. Juli 2014 und titelt Der Absturz. Die deutsche Börse schloss vor 100 Jahren am 30. Juli 1914 und sollte, nach 17 Millionen Kriegstoten und der nachhaltigen Vernichtung von Vermögen und Wohlstand, erst vier Jahre später wieder öffnen. Die Nachkriegszeit war eine Friedenszeit mit politischem wie wirtschaftlichem Unruhepotenzial. Die katastrophalen Folgen sind bekannt (mehr). 

 

Jedoch: Soll man sich beim aktuellen Kriegsgeschehen, das täglich unsere Nachrichten speist, noch für einen vergangenen Krieg interessieren? Das Deutungspotential des Ersten Weltkriegs für die folgenden Katastrophen in Deutschland ging weithin verloren, formuliert der wissenschaftliche Beirat des LVR-Projektes, ein Kompetenzteam aus Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaftlern, „weil der erste Krieg der europäischen Neuzeit sich lange nicht kommunizieren ließ.“ Und weiter: „In der Erinnerung der meisten Deutschen (...) hat der Zweite Weltkrieg die Ereignisse des Ersten weithin überformt.“

 

Blick in die Ausstellung mit dem Elektroauto "Runabout", London Electro-Mobile Syndicate Ltd., 1903. Fotograf Michael Rasche

 

Die Ausstellung Die wilhelminische Zeit ist denn auch die erste, in die der Besucher eintaucht. Die Schau schildert die Entwicklung vom seinerzeitigen Gesellschaftsbild hin zu einer beginnenden Individualisierung. Symbolisch vertritt das Einschnüren des Korsetts die hohe Disziplinierung der Menschen in jener Zeit. Ein Drehgestell der Wuppertaler Schwebebahn, das erste Elektroauto „Runabout“, blendend weißwandige Reifen an Fahrrädern für den – Dandy(?), neue Architektur wie das Glashaus von Bruno Taut (mehr) ... Gezeigt werden realistische Utopien einer zukünftigen Welt, während das gesellschaftliche Leben in immer mehr neu gegründeten Vereinen seinen Lauf nahm und der private Konsum bereits durch plakative Werbung forciert wurde. Aufbruch und Dynamik in Wohlfühlatmosphäre verbreiten nicht zuletzt geschickt eine von Jan Thorn Prikker (mehr) entwickelte Musterung in Glasmalerei, die als Folien auf die gegebenen Lichtdurchlässe aufgebracht wurden.

 

Giftgas-Versuch zur Erprobung von Gasmasken auf der Wahner Heide in Köln, Gemälde von Otto Bollhagen, um 1915 (aus LVR-Katalogbuch zur Ausstellung, S. 158)

 

Der Erste Weltkrieg war eine Konfrontation bislang ungeahnten Ausmaßes: Ein industrialisierter Krieg mit neuer Gewalterfahrung.

Foto LVR/ Michael Rasche

 

Die nächste Ebene zeigt den Krieg, beginnend mit den heroischen und stolzen Soldaten. In den tiefen Trichtern toben die visuellen Schlachten und Otto Bollhagens Gemälde „Giftgas-Versuch auf der Wahner Heide in Köln“ von 1915 zeigt die Tauglichkeitsprüfung neu entwickelter Gasmasken. Die vier Tonnen schwere Feldhaubitze M1913 war Teil der Artillerie und mit den körperlichen Folgen des Waffenganges beschäftigte sich die plastische Chirurgie: sie lieferte Körperteil- und Gesichtsprothesen.

     Die 3,50 Meter hohe Nagelfigur „Eiserner Georg“ - Teil einer großangelegten Propagandaaktion - trägt einen eisernen Panzer aus Nägeln: für jede Spende an Witwen, Waisen und Hungernde wurde ihm, der die deutschen Kriegsgegner symbolisierte, ein Nagel eingeschlagen.

     Die Rhein-Ruhr-Region wurde ihrem Namen als Waffenschmiede des Reiches gerecht. Die Firmen der Region stellten ganz auf die Kriegsproduktion um und diese immense Waffenherstellung machte den ersten industrialisierten Krieg der Menschheit erst möglich. "Der Erste Weltkrieg war kein ritterlicher Krieg, und in ihm fielen, mitten im Europa der Moderne, mehr denn je die zivilisatorischen Schamgrenzen bei der Anwendung von Gewalt", schreiben Heinrich T. Grütter und Walter Hauser in dem, die Ausstellung begleitenden, Katalogbuch.

 

In einer Vitrine steht der Umzugskoffer von Kaiser Wilhelm II., der 1918 nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes abdankte und ins niederländische Exil ging. Foto rART

 

Zwischen den Kriegen Breiten Raum nimmt auch die „entzauberte Moderne“, die Zwischenkriegszeit an Rhein und Ruhr, ein. Viele Zukunftsvorstellungen waren zerstört, es entstanden neue gesellschaftliche Rollenbilder, die „Rationalisierung“ der Wirtschaft mit der Fließbandproduktion wurde zum alles bestimmenden Schlagwort. Hunger, Armut und bürgerkriegsähnliche Gewalt prägten den Alltag.

      Kaiser Wilhelm II. war im Exil, doch in der Rhein-Ruhr-Region endete der Erste Weltkrieg in Wahrheit nicht 1918. Erst im Sommer 1925, mit dem Ende der französisch-belgischen Besatzung, nach "Ruhrkampf" und "Ruhrbesetzung", konnten die Menschen sich dem Frieden zuwenden. Allerdings im Sinne der Zeitgeschichte nur einen Wimpernschlag lang: die "Waffenschmiede" hatten alsbald die neuen Machthaber im Visier.

 

 

Hitler und Mussolini besuchen Essen, die „Waffenschmiede des Reiches“, 27. September 1937 © Leihgeber: Haus der Essener Geschichte / Stadtarchiv

 
Irmgard Ruhs-Woitschützke

 

Die Ausstellung "1914 - Mitten in Europa" wurde von den LVR-Industriemuseen und dem Ruhr Museum gemeinsam organisiert und ist bis zum 26. Oktober 2014 zu sehen.

UNESCO- Welterbe Zollverein

Areal C (Kokerei), Mischanlage (C70)

Arendahls Wiese

45141 Essen

Tel. 0201 24681 444

Öffnungszeiten

täglich 10 - 18 Uhr

 

In der rheinische ART.kulturMagazin-online finden Sie mehrere Veröffentlichungen zu den LVR-Ausstellungen 1914:

 

 Kriegs(er)leben im Rheinland – Zwischen Begeisterung und Verzweiflung. Der Eifelmaler Anton Keldenich hier

 

 Mit uns zieht die neue Zeit…“ Konsumgenossenschaften im Rheinland 1900-1918 hier

 

 Krieg und Licht - Zur Dynamik der ländlichen Elektrifizierung um 1914 hier

 

 Seine Augen trinken alles. - Max Ernst und die Zeit um den Ersten Weltkrieg hier

 

 1914 – Welt in Farbe. Farbfotografie vor dem Krieg hier

 

 

 

 

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