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rheinische ART 07/2024

GRAFIC NOVEL
Düsseldorf 35/45


Deutschlands grauenvollstes und düsterstes Jahrzehnt, jenes zwischen 1935 und 1945, in einem Comic-Buch mit Blick auf Düsseldorf! Und das auf über 500 (Fünfhundert!) Seiten. Das Bilder-Epos des Comic-Zeichners Tobi Dahmen hat es in sich!

 

Düsseldorf März 1945: US-Truppen erreichen Düsseldorf-Oberkassel und fahren mit Panzern durch das Quartier. Die Illustration zeigt Marlies Dahmen mit Weißer Fahne. Begleittext zweier Panzerfahrer: „Schauen Sie sich diese Häuser an. Diese reichen Wichser. Als ob das nicht genug wäre, mussten sie ganz Europa verschlingen.“ Zitat aus dem Englischen S. 465. Szene S. 468/469 © Tobi Dahmen, Bildquelle © Carlsen Verlag Hamburg 2024

 

„Columbusstraße“ titelt diese gewaltige Grafic Novel vordergründig harmlos. Dabei ist sie mehr als die im Untertitel angekündigte Familiengeschichte. Eine Comicerzählung wie diese ist weder in einem derartigen Umfang, wie es die Frankfurter Allgemeine Zeitung treffend bezeichnete, noch vom Inhalt her alltäglich.

     Auf jeden Fall dürfte „Columbusstraße“ im deutschsprachigen Grafic-Novel-Markt ohne Beispiel sein. Der Buchtitel ist benannt nach dem Standort eines repräsentativen Wohnhauses in Düsseldorfs linksrheinischem Stadtteil Oberkassel. Die Straße existiert noch und ist heute wie damals eine geschätzte Immobilienlage.

 

Düsseldorf 1939: Königsallee und Tritonenbrunnen. „Ach Freiheit! Man müsste die Zeit anhalten können…“ Im Hintergrund das Warenhaus von Leonhard Tietz. 1933 war im Zuge der Arisierung der Firmenname gelöscht worden. Die Warenhauskette wurde in Westdeutsche Kaufhof AG umbenannt. Bild und Zitat S. 75 © Tobi Dahmen, Bildquelle © Carlsen Verlag Hamburg 2024

 

Dort wohnte gutbürgerlich, vielleicht auch eher rheinisch-katholisch und städtisch-oberschichtsmäßig, der Großvater des Buchautors, der Rechtsanwalt Karl Dahmen (*1888). Dort wird sein Vater Karl-Leo Dahmen als viertes Kind 1932 geboren. Er wächst mit den älteren Brüdern Eberhard und Peter, und der Schwester Marlies, auf.

     Und der Vater Karl-Leo ist es, der im Mittelpunkt der Chronik steht und dessen Leben in jenem Jahrzehnt der Autor Tobi Dahmen (*1971) aufblättert.


Dem Leser werden zunächst die Stammbäume der Düsseldorfer Familie Dahmen und der Familie Funcke, die schlesischen mütterlichen Vorfahren des Autors, vorgestellt. Die Verwandtschaft in toto sozusagen!

     Das ist auch erforderlich, um die zehn NS-Jahre in der Rheinmetropole und den zahlreichen anderen Orten zu verstehen und zu verfolgen. Denn die Familien sind kriegsbedingt zerstreut. Die Handlungen spielen daher an verschiedenen Orten. Neben Düsseldorf unter anderen in Wesel, Dresden, Breslau, im oberschlesischen Jauernig, in Duderstadt, im Schwarzwaldstädtchen Villingen-Schwenningen, in Koblenz oder St. Goarshausen. Ferner werden Episoden aus verschiedenen Frontabschnitten in Russland und Italien angesprochen. So wie sie für die älteren Brüder Eberhard und Peter Dahmen belegt sind.

 

Düsseldorf September 1942 „Nach einem Volltreffer auf das Görres-Gymnasium sollte mein Schulweg in den nächsten Wochen noch länger werden. Ich kam auf das Max-Planck-Gymnasium in der Prinz-Georg-Straße.“ Zitat/Auszug, S. 195 © Tobi Dahmen, Bildquelle © Carlsen Verlag Hamburg 2024

 

Buchcover Bildquelle © Carlsen Verlag 2024

 

Düsseldorf Spätsommer 1940 Es wird Verdunkelung befohlen, die Nächte werden pechschwarz. Erste Luftangriffe verwüsten die City. Es beginnt die Kinderlandverschickung von Schulkindern und Müttern mit Kleinkindern in ungefährdete Gebiete. Szene S. 112 © Tobi Dahmen, Bildquelle © Carlsen Verlag Hamburg 2024

 

Von der Location Columbusstraße aus entfaltet Tobi Dahmen das Kriegsschicksal seiner Familie in einem Stil, der durch spektakulär zeichnerische Grautöne und spannende Texte den Leser fesselt. Apropos Grautöne: Davon gibt es in diesem Geschichtscomic erstaunlich zahlreiche Nuancen.

     Ansonsten bleibt so gut wie alles schwarz-weiß und die Bilder und Sprechblasen erhalten damit eine karge, die Dramatik, Trostlosigkeit und Zerrissenheit der Zeit unterstreichende Optik und gleichzeitig einen beeindruckenden Tiefgang. Schon das Titelbild dieser Grafic Novel ist da das beste Beispiel: Ein kurzbehoster Junge mit Schulranzen rennt – vermutlich ist es sein Schulweg – durch die Trümmerlandschaft seiner Heimatstadt Düsseldorf


Zur Story. Es handelt sich nicht nur um eine wahre, berührende und schnörkellose rheinische Familiensaga zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. „Columbusstraße“ ist auch ein Stück Düsseldorfer Stadtgeschichte und ein historischer Rückblick auf die Deutschen und alles Deutsche zur Zeit des Nationalsozialismus.

     Alles Üble kommt zutage. Die Furcht vor der Gestapo, Kriegstreiberei, Hurra-Patriotismus, Blockwart-Mentalität, Bombennächte, NS-Täter und Mitläufer, Zwangsarbeit. Der Autor schlägt Brücken zu entfernten Kriegsschauplätzen, schildert und bebildert brutale Kriegserlebnisse der Brüder Eberhard und Peter an der Ost- und Südfront.

     Aber auch, da wird die Erzählung fast schmerzhaft ehrlich, werden politischer Opportunismus und Fatalismus angesprochen. Der Großvater, renommierter und gewiefter Jurist, zeigt sich nach eingehender Recherche nicht als hehrer Rechtswahrer und NS-Gegner, sondern als Antisemit und NSdAP-Mitglied. Und, ob gewollt oder nicht, ist der Bildband von höchster Aktualität – Krieg in Europas Osten, Rüstungsproduktion, Diskussion um Wehrpflicht und Waffenlieferungen.


Leverkusen Bayer-Werke Februar 1945. Medikamentenproduktion mit Arbeiterinnen des Kriegshilfsdienstes. „Eben haben sie durchgegeben, dass die Amerikaner schon bei Neuss sind. Gott steh uns bei!“ Bild S. 426/427 Text S. 430 © Tobi Dahmen, Bildquelle © Carlsen Verlag Hamburg 2024


Dass Tobi Dahmen mit „Columbusstraße“ eine Familien-Chronik der Kriegsjahre so spannend wie erdrückend erzählen konnte, gelang, da er Aufzeichnungen von Gesprächen mit seinem Vater Karl-Leo besaß und nach dessen Tod auf biografisches Material gestoßen war. Darunter eine Sammlung alter Familienbriefe. Ausgehend von den bewegenden Zeitzeugnisse recherchierte und rekonstruierte Dahmen die Kriegsjahre detailreich und stimmig. Dies anhand faktenbasierter Dokumente und Fotos, fiktive Dialoge ergänzen.

 

Zwischen Leverkusen und Düsseldorf Februar 1945: Stadtbewohner auf der Flucht vor der nahenden Front. Die hilfsdienstleistende Marlies auf dem Weg zu ihren Eltern in Oberkassel. Auf Fahnenflucht stand die Todesstrafe. Bild S. 432/433 © Tobi Dahmen, Bildquelle © Carlsen Verlag Hamburg 2024

 

Dabei legt er schonungslos die Rollen seiner Eltern und Großeltern in dieser Zeitspanne offen und stellt Fragen nach politischer und persönlicher Verantwortung. Im Spiegel seiner Familiengeschichte reflektiert der Autor eindrücklich und überaus gut verständlich die deutsche Vergangenheit und geht damit weit über das Private hinaus, wie es im Klappentext heißt.

     Columbusstraßen, ob nun mit C oder K geschrieben, gibt es in so gut wie allen deutschen Großstädten. Die Düsseldorfer hat wegen dieser so feinfühlig und detailreich verfassten und gezeichneten Erzählgeschichte das Potenzial, in die deutsche Comic-Historie einzugehen. Sehr lesens- und sehenswert!
rART/cpw


 Ein gut aufgearbeitetes Glossar im Anhang, nach Seiten katalogisiert, liefert wichtige Erklärungen und erleichtert die zeitliche oder räumliche Einordnung und das Verständnis spezifischer Sachzusammenhänge und Begriffe aus der NS-Zeit. Hierzu zählen, um nur einige zu nennen, Termini wie Aktion Rheinland, Kinderlandverschickung, Novemberpogrom, Stahlhof, Volkssturm, Wehrkraftzersetzung, Werwolf.


 Tobi Dahmens Onkel Eberhard Dahmen (*1921) schrieb am 21.6.1944 von der Russlandfront den letzten Brief. Danach galt der 23-jährige Wehrmachtssoldat als vermisst. Wie er umgekommen ist, beabsichtigt der Autor in einem weiteren Comicbuch aufzuarbeiten. Onkel Peter Dahmen (*1923) geriet im Mai 1944 südlich von Rom in Gefangenschaft und galt lange ebenfalls als vermisst.

 

Literaturhinweis:
Tobi Dahmen, Columbusstraße, 528 Seiten, Buchgröße 173 mm x 245 mm. Verlag Carlsen Hamburg. ISBN 978-3-551-79663-9. Preis 40 Euro

 

 

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