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rheinische ART 04/2024

MUNDANEUM
Das Wissen der Welt - auf Papier


Er gilt als „Pionier des Informationsmanagements“, das Magazin Der Spiegel nannte ihn gar einen „Netzvisionär“: Paul Otlet. Sein „Mundaneum“, mit einem Wissensschatz von Millionen Informationen seiner Zeit auf Karteikarten gespeichert, ist im belgischen Mons beheimatet.

 

Die bibliographische Sammlung von Paul Otlet um 1903 (Le Répertoire Bibliographique Universel vers 1903). Dutzende Helferinnen machten sich daran, Dokumente zu archivieren und einzuordnen. Bildquelle © Mundaneum, Mons Belgien

 

Paul Otlet (1868–1944) gilt heute als Vordenker von Wikipedia und Internet. Das Zusammentragen des Weltwissens hatte der ausgebildete Jurist, der schon in seiner Jugend als Bibliophiler galt, bereits 1895 begonnen.

     Otlet wollte ein „Weltnetz“ der Informationen aufbauen. Anfang des 20. Jahrhunderts war dies ein geradezu revolutionäres Ziel. Mit seinem Landsmann, dem späteren Friedensnobelpreisträger Henri la Fontaine (1854–1943), gründete er das etwas sperrig wie langweilig klingende „Office International de Bibliographie“ in Brüssel. Ihrem wachsenden Dokumentationszentrum, diesem geplanten weltweiten Wissensnetz, gaben sie den Namen „Mundaneum“.

 

Historische Zettelkästen im Mundaneum in Mons. Es ist gleichzeitig Archivzentrum der Föderation Wallonie. Foto Patrick Tombelle © Mundaneum Mons, Belgien


Otlet und la Fontaine sammelten jahrelang Informationen über alles, was an Publikationen auf den Markt kam: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Ikonographien, Pamphlete, Poster, Fotoplatten, Bilder und Filme. Sie übertrugen die Informationen auf Karteikarten, katalogisierten und sortierten sie in ein gewaltiges Zettelkästen-System. Das war ihre Form der „Datenspeicherung“ und ein eigens entwickeltes Dezimalklassifikationssystem ihr „Suchsystem“.

 

Paul Otlet in seinem Büro um 1937. Bildquelle © Wikipedia gemeinfrei

 

Henri La Fontaine Anwalt und Friedensnobelpreisträger. Bildquelle © Wikipedia gemeinfrei

 

Beide wussten um die Probleme, die mit den Unmengen von Daten, ihrer Speicherung und Bereitstellung verbunden waren. Schon 1906 schlug Otlet vor, die Mikrofotografie zu verwenden, um bibliographische Informationen, Dokumente oder gar Bücher auf „Mikrofiche“ zu speichern.

     Interessierte, woher sie auch immer stammen mochten, konnten Anfragen an sein Institut stellen und erhielten gegen Gebühr Auskünfte per Post oder Telegraph. Das waren immerhin cirka 1500 jährlich. Doch Otlet dacht noch weiter. Ihn faszinierte zum einen das aufkommende Radio, was eine kabellose Kommunikation ermöglichte, dachte über ein kabelloses Telefon nach oder über ein mechanisches Gehirn. Otlets als auch La Fontains Vision war, dass Wissen, das der gesamten Welt zur Verfügung steht und mit ihr geteilt wird, einen Beitrag zum Frieden zu leisten vermag. 

 

Eine weitere geniale Idee hinter allem: Mittels eines von Otlet erfundenen Notationssystems, der Universal Decimal Classification (UDC), verwiesen die Karteikarten jeweils auf Inhalte in anderen Karten, sie waren sozusagen manuell  „verlinkt“, wie es heutzutage elektronisch per Hyperlinks im Internet und im World Wide Web üblich ist. Die UDC war quasi die Software, mit der das Mundaneum betrieben wurde.

     Damit wurde der Bibliothekar Paul Otlet zwar nicht direkt zum „Vater des Internets“, aber zu einem der Pioniere der modernen Medienwissenschaft. Und seine Karteikartenkollektion zum „Google auf Papier“, wie die New York Times den Erfinder und Erneuerer in der Technik der Dokumentation einmal feierte.

 
Lange galt die Person Paul Otlet und seine bahnbrechende Zettelwirtschaft als vergessen. Erst mit der Gründung des Mundaneum-Museums 1998 in der wallonischen Stadt Mons, europäische Kulturhauptstadt 2015, und der finanziellen Förderung des historischen Werkes durch den Google-Konzern ab 2012, rückte das einzigartige Sammlungswerk wieder in das öffentliche Bewusstsein.

 

Innenansicht des Mundaneum in Mons. Foto © rheinische ART. 2024

 

Bereits zu Lebzeiten war Paul Otlet mit seinen Visionen ein bekannter Mann. Aber er wurde ein Opfer seiner Zeit und der politischen und ökonomischen Verwerfungen. Sein vom belgischen Staat zunächst protegiertes Pionierwerk Mundaneum war als „Weltbibliothek“ gedacht und im Brüsseler Parc du Cinquantenaire untergebracht. Dort belegte es zahlreiche Räume mit Kilometern von Papier. Nach Ende des Ersten Weltkriegs 1918 sollte das Mundaneum Teil des neugeschaffenen Völkerbundes werden, den Brüssel sich als Sitz erhoffte.

     Aber die internationale Gemeinschaft entschied anders. Die 1920 gegründete Organisation Völkerbund, deren Ziel die Erhaltung und Sicherung des Friedens war, wählte als Sitz Genf in der neutralen Schweiz.

     Daraufhin verlor Brüssel das Interesse am Mundaneum. Sieben Jahre später wandte sich Otlet an den schon damals berühmten Architekten Le Corbusier (mehr) mit der Idee, für Genf eine Weltbibliothek zu entwerfen, sein Mundaneum auf globaler Ebene. Allerdings scheiterte die Realisierung durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und den Börsensturz 1929.

 

Mondothèque-Arbeitsplatz. Nach Otlets Vorstellungen sollte dies eine Art Mini-Mundaneum für zu Hause sein. Geeignet für die Suche nach Informationen vom Sessel aus. Bildquelle © Mundaneum, Mons Belgien

 

 

Eine Verbeugung vor dem Mundaneum auf den Straßen von Mons: Street-Art. Foto © rheinische ART. 2024

 

Aber der Visionär Otlet blieb hartnäckig. 1934 veröffentlichte er sein Buch „Traité de documentation“. Estmals wurden damit einem breiten Publikum seine Pläne und Vorstellungen, mit denen er der Zeit voraus war, vermittelt. 

     Er sprach bereits vorausschauend von der „verstrahlten Bibliothek“ und von der neuen Technik des Fernsehens, das Bücher übertragen und mit seinem Mundaneum verbunden sein sollte. Aber alles half nichts. Sein Institut wurde geschlossen, die staatliche Förderung eingestellt und die Karteikartensammlung in die Katakomben verschoben.

     Das universelle Mundaneum blieb – bis auf Otlets und La Fontaines Wirken in Brüssel – eine Vision. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Teile der Sammlung zudem vernichtet.

 

Was heute von dem ursprünglichen Mundaneum erhalten ist und im Museum in Mons präsentiert wird, steht auf der UNESCO-Liste als Weltdokumentenerbe und trägt das Siegel „Europäisches Kulturerbe“.

     Das Haus versteht sich als ein Archivzentrum der Wallonie mit einem Bildungsauftrag. Aufbewahrt werden nach eigenen Angaben rund sechs Kilometer an Dokumenten. Neben den persönlichen Nachlässen der Gründer Paul Otlet und Henri La Fontaine sowie den von ihnen oder ihren Nachfolgern gesammelten Zeitungen, Plakaten, Postkarten, Glasplatten und kleinen Dokumenten verfügt das Mundaneum über Archivbestände zu drei Hauptthemen: Pazifismus, Anarchismus und Feminismus.

     Alles in allem ist es gleichwohl nur ein kleiner Bruchteil des damals gesamten Wissens der Welt, auf alten Indexen und Karten in Holzkästen und Wandschränken archiviert.

 

 

Google-Doddle vom 25. August 2015 Bildquelle © Google

  

Das vergleichsweise kleine Museum in Mons bietet dennoch einen überaus interessanten technischen Einblick in die Frühzeit der Datenspeicherung. Die Internet-Suchmaschine des Unternehmens Google ehrte den Pionier Paul Otlet 2015 anlässlich seines 147. Geburtstags mit einem markanten sogenannten Doodle, einem thematisch angepassten Logo: sinnigerweise sind es Karteikarten-Schubfächer. Das war schon passend!
Irmgard Ruhs-Woitschützke/cpw

 

Otlet und La Fontaine waren nicht die einzigen Utopisten. Der norwegisch-amerikanische Stadtplaner und Künstler Hendrik Christian Andersen und der französische Architekt Ernest Hébrard präsentierten 1913 Pläne für den Bau einer Weltstadt mit einem Weltzentrum für Kommunikation und Wissen (Creation of a World Centre of Communication. Paris: 1913).

 

► Wer die Historie des World Wide Web aufblättert, findet nur wenig über die beiden Brüsseler Bibliotheksexperten. Medienfachleute verorten den Beginn der systematischen multimedialen Dokumentation von Wissen bei dem US-amerikanischen Ingenieur und Analogrechner-Pionier Vannevar Bush (1890–1974). Der Harvard-Absolvent und Militärexperte hatte 1944, zehn Jahre nach Otlets Tod, seine Suchmaschine Memex vorgestellt. Bush war ferner am Manhattan-Projekt, dem Bau der ersten Atombombe, beteiligt. Aber bekannt wurde er mit dem Essay „As We May Think". Das darin publizierte Konzept des Memory Extender, des Wissensspeichers, gilt heute als Vorläufer des Personal Computers und Hypertextes.

 

Mundaneum
Rue de Nimy 76
7000 Mons / Belgien
Tel +31 65 31 53 43
Öffnungszeiten

MI, DO, FR 10 - 17 Uhr 

SA, SO       10 - 18 Uhr 

 

 

Literaturhinweis und Zitierquelle:

 

  • Alex Wright: The web that time forgot. The New York Times, 17. Juni 2008
  • Le Livre sur le Livre, Traité de documentation (Paul Otlet Das Buch über das Buch, Abhandlung über Dokumentation). Editiones Mundaneum. Palais Mondial, Brüssel. 1934.


Ein Besuch des Mundaneums wurde der Redaktion der rheinische ART.kulturMagazin-online ermöglicht durch den Tourismusverband VISITWallonia/Köln (www.visitwallonia.de) und das Eisenbahnunternehmen Eurostar (www.eurostar.com).