rheinische ART
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rheinische ART 05/2017

Archiv 2017

ABRISS UND AUFBAU
Kampfplatz Stadt

 

Neu gegen alt, groß gegen klein, moderne gegen tradierte Lebensformen: Viele Städte der Welt sind in den letzten Jahrzehnten geradezu explodiert. Raumnot, exorbitante Grundstückspreise und radikal geänderte Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen  ihrer Bewohner sind ihr markantes Merkmal.

 

Bernard Langerock Das „Büdchen“ – Nachbarschaftstreff und Nahversorgung Foto © Bernard Langerock Fotoquelle: LVR-Industriemuseum St. Antony-Hütte Oberhausen 2017

 

Auch Länder können träumen. So gibt es etwa einen „chinesischen Traum“. Das ist eine Art staatlich verordneter Leitfaden, der vorsieht, dass sich das Reich der Mitte schnell und grundlegend erneuert, modernisiert, innovativer, lebenswerter und reicher werden soll. Wie das praktisch aussehen kann, ist in den Städten des bevölkerungsreichsten Staates der Welt gut zu beobachten.

 

Bernard Langerock Hochhäuser „überwuchern“ die alten Siedlungshäuser Foto © Bernard Langerock. LVR-Industriemuseum St. Antony-Hütte Oberhausen 2017

 

Zum Beispiel in der Riesenmetropole Chongqing in Chinas Hinterland. Mit über 80.000 Quadratkilometern Fläche so groß wie Österreich und mit vermutlich 32 Millionen Einwohnern ist diese „Stadt“ die größte der Welt.

     Durch die gewaltige Wirtschaftsexpansion der letzten Jahrzehnte ist diese Agglomeration am Zusammenfluss von Jangtsekiang und Jialing längst eine typische Boomtown geworden, eine Megacity mit Hochhausskyline, Industriekomplexen und Massenverkehr. Wohnungen und Grundstücke sind ein rares Gut.

     Daher wurde Chongqings traditionelle Arbeitersiedlung Tong Yuanju, die dem Expansionsdrang der Stadtentwicklung im Weg stand, dem Abriss preisgegeben.

 

Soweit nichts Besonderes und auch nichts, was unbedingt berichtet werden muss. Interessant wird dieser Vorgang jedoch dann, wenn man ihn mit Kapiteln der Industrie- und Sozialgeschichte in Rheinland und Westfalen assoziiert. Der Düsseldorfer Fotograf Bernard Langerock hat das in Zusammenarbeit mit dem LVR-Industriemuseum Oberhausen getan.

     Er fertigte 2013 und 2015 eine Fotoserie in der Werkssiedlung Tong Yuanju, die das Verschwinden dieses Ortes mit seiner charakteristischen Architektur und seinem sozialen Gefüge dokumentiert. Die Fotografien zeigen den einst von der Metallindustrie geprägten Vorort in einer Übergangsphase, nachdem bereits viele Bewohner abgewandert waren. Demgegenüber stellte Langerock die Situation der wenigen Menschen, die noch in den verbliebenen Häusern ausharrten, und hielt ihr alltägliches Leben in Bildern fest.

 

Bernard Langerock Blick in einen der Wohnhöfe Foto © Bernard Langerock. LVR-Industriemuseum St. Antony-Hütte Oberhausen 2017

 

Die Fotoserie ist derzeit im LVR-Industriemuseum St. Antony-Hütte in Oberhausen zu sehen. Der Präsentationsort ist bewusst und gut gewählt: Denn über Länder- und Zeitgrenzen hinweg offenbaren sich bemerkenswerte Parallelen zur alten Oberhausener Arbeitersiedlung Eisenheim, der ältesten ihrer Art im Ruhrgebiet. Eisenheim wurde ab 1846 in mehreren Bauphasen als Wohnsiedlung für Arbeiter vom einstigen Schwerindustriekonzern Gutehoffnungshütte (GHH) gegründet.

 

Bernard Langerock Alltag Das Leben spielt sich im Freien ab, auch die Mahlzeiten. Foto © Bernard Langerock. LVR-Industriemuseum St. Antony-Hütte Oberhausen 2017

 

In Chongqing waren es Staatsbetriebe der Metallindustrie, die Tong Yuanju errichteten. Seit über 15 Jahren ist der Abriss der dortigen Werksunterkünfte beschlossene Sache und riesige Neubauten traten sukzessive an ihre Stelle.

     Für die „Kolonie“ Eisenheim lagen in den 1970er Jahren ebenfalls die Pläne für eine totale Liquidation zugunsten neuer städtebaulicher Entwicklungen in den Schubladen der Kommunalpolitiker. Doch durch den massiven Protest seiner Bewohner konnte die historische Ruhrgebietssiedlung gerettet werden. Sie blieb unangetastet, wurde saniert und bildete einen Meilenstein in der Industriedenkmalpflege des Reviers und darüber hinaus.

     Eine Kombination aus Langerocks China-Fotografien mit Äußerungen der ehemaligen Bewohner von Eisenheim zu ihrem eigenen Wohnort soll die Ähnlichkeit der Siedlungen und der Lebensformen – trotz aller kulturspezifischen Unterschiede - hervorheben.

 

Aus der Fotodokumentation, die neben dem Leben und dem Alltag der Menschen in Tong Yuanju auch Architekturdetails bis hin zu Mustern in Fensterscheiben und Bodenbelägen in Wohnungen zeigt, hat Langerock zudem die Installation „Cut out Figures“ entwickelt, die ebenfalls in der Schau zu sehen ist.

     Dabei wurden aus den Fotos die Menschen herausgeschnitten, die so Leerstellen im wahrsten Sinne des Wortes hinterlassen. Die Intension des Fotografen: Die Schnitte sollen verdeutlichen, dass der Lebensraum des Menschen Teil seiner Identität ist und dass der Mensch, aus seinem räumlichen Kontext gerissen, zu einer Art Ware wird.

rART/Bra

 

Die Ausstellung "Tong Yuanju - eine Arbeitersiedlung in Chongqing, China" wird bis zum 15. Oktober 2017 gezeigt.
LVR-Industriemuseum
St. Antony-Hütte

Antoniestraße 32-34
46119 Oberhausen
Öffnungszeiten
DI - FR 10 - 17 UHR
SA, SO 11 - 18 UHR


 Ergänzender Besuchshinweis: Mehr zur Geschichte von Eisenheim, der ältesten Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet, zum Kampf gegen den geplanten Abriss in den 1960er und 1970er-Jahren sowie über den Alltag und das Leben in der ‚Kolonie’:
LVR-Industriemuseum
Museum Eisenheim

Berliner Straße 10a
46117 Oberhausen

 

 

 

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