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rheinische ART 03/2023

Archiv 2023

VOR 100 JAHREN
Hände weg vom Ruhrgebiet!

 

Der Erste Weltkrieg war zu Ende, Deutschland hatte den zermürbenden Krieg verloren und musste sich dem Versailler Friedensvertrag am 28. Juni 1919 beugen. Das hieß unter anderem: Besetzung des Rheinlandes durch die Siegermächte und horrende Reparationszahlungen.

 

Deutscher Zivilist und französischer Besatzungssoldat, Szene vor dem Bahnhof Essen 1923. Foto © Haus der Essener Geschichte / Stadtarchiv, Bundesarchiv Bild 183-R09876 / CC-BY-SA 3.0. Bildquelle LVR Ruhr Museum

 

Und so rückten nach Kriegsende die Besatzungsmächte in die linksrheinischen Gebiete ein: Amerikanische Truppen zum Beispiel in Koblenz, französische in Köln und belgische in Neuss. Im Rechtsrheinischen belegten sie in Form von Brückenköpfen kleinere Regionen bei Köln, Koblenz und Mainz.

     Doch damit nicht genug. Aufgrund mangelnder Reparationsleistungen durch Deutschland okkupierten Frankreich und Belgien ab dem 11. Januar 1923 das bis dahin entmilitarisierte Industriegebiet an der Ruhr. Ziel der Aktion war es, die Kohle- und Koksproduktion des Reviers als „produktives Pfand“ zur Erfüllung der deutschen Reparationsverpflichtungen zu sichern. Mit Fahrrädern, Kavallerie, Lkw, Eisenbahn und Kettenfahrzeugen strömten bis zum Monatsende annähernd 100.000 französische und belgische Soldaten in die Ruhrstädte zwischen Duisburg und Dortmund.

 

Französische Panzerfahrer vor dem Landgericht in Duisburg, 1922. Foto und Bildquelle © LVR

 

Plakat „Nein, mich zwingt Ihr nicht!“. 13.1.1923. Foto © Haus der Geschichte (gemeinfrei) Bildquelle LVR Ruhr Museum

 

Ein gewaltsamer Vorgang mit verheerenden Folgen, da der Einmarsch mitten im Frieden erfolgte und den Charakter einer Kriegsbesetzung hatte. Die Besetzung gipfelte in zivilem wie auch teilweise militantem deutschen Widerstand gegen die Besatzer. Die Begriffe „Ruhrkrise“ und „Ruhrkampf“ waren geboren und der Ausgang der zweijährigen Besetzung sollte innenpolitisch weitreichende Bedeutung für die noch junge Weimarer Republik haben.


Schon unmittelbar nach Beginn der Besetzung rief die deutsche Regierung zu passivem Widerstand auf und stellte alle Reparationszahlungen ein. Blutige Zusammenstöße zwischen dem Militär und der Bevölkerung waren an der Tagesordnung und erzeugten eine Spirale der Gewalt.

     Die der Sozialdemokratie nahestehende „Essener Arbeiter-Zeitung“ wandte sich etwa „aus reinem nationalem Empfinden gegen die Vergewaltigung […] heimatlichen Bodens“. Dies entsprach der Haltung weiter Bevölkerungskreise, was sich in Protestplakaten wie „Nein!. Mich zwingt Ihr nicht!“ zum Ausdruck kam. Die Ruhrbesetzung erfolgte im Übrigen nicht mit der Zustimmung anderer Siegermächte. So wertete das Vereinigte Königreich den Einmarsch als illegal und die Regierung der Vereinigten Staaten sprach missbilligend von einer verwerflichen Gewaltpolitik.

 

Blick in die Ausstellung. Foto © LVR Ruhr Museum, Christoph Sebastian


Das Essener Ruhr Museum präsentiert anlässlich des 100. Jahrestages des Beginns der Ruhrbesetzung eine bemerkenswerte Ausstellung, die den Alltag im Revier von 1923 bis 1925 verdeutlicht. Hände weg vom Ruhrgebiet!, so der Titel, zeigt die Erfahrungen der Bevölkerung und der Besatzer sowie die Ereignisse dieser Krisenjahre in sechs Kapiteln.

     Dabei beleuchtet sie auch den Moment in der Geschichte, in dem das Ruhrgebiet als eine einheitliche Region entstand und wichtige Grundlagen für die Metropole Ruhr als Identifikationsraum gelegt wurden.
     1923 war ein Schreckensjahr für Deutschland und vor allem für das Revier, mit Hyperinflation, Staatskrise, Hitler-Putsch, Gewalt, Versorgungsengpässen, Mangelernährung, wirtschaftlichem Stillstand und bitterer Armut. Auf der anderen Seite vergnügten sich Krisengewinnler dekadent. Für den damals 42-jährigen Schriftsteller und Pazifisten Stefan Zweig war es eine „Tollhauszeit“.

 

Französische Militärkappe © Musée Lorrain des Cheminots, Rettel (Frankreich) ; Foto © LVR Ruhr Museum, Christoph Sebastian

 

Französischer Soldat auf einem Kohlewagen. Foto © Haus der Essener Geschichte, Stadtarchiv. Bildquelle LVR Ruhr Museum

 

Die Ruhrbesetzung steht nicht nur für eine extreme Ausnahmesituation, sondern ist ein zentrales Kapitel der Ruhrgebietsgeschichte, wie es in der Ausstellung heißt.

     Neben seltenem Filmmaterial stellen rund 200 Exponate wie Fotografien, Postkarten, Flugblätter, Plakate, Ausweise und zahlreiche weiterer Dokumente, ferner auch Medaillen, Gedenktafeln, Waffen und Uniformen den Besatzungsalltag aus unterschiedlichen Perspektiven dar.

     Besonders interessante Objekte kommen aus europäischen Museen. Eine seltene Schießscheibe wurde aus dem Deutschen Historischen Museum in Berlin entliehen, Uniformen und Ausrüstungen von französischen und belgischen Armeeangehörigen stammen aus dem Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux in Frankreich. Ein belgisches Original-Maschinengewehr lieferte das Musée Royal de l'Armée et d'Histoire Militaire in Brüssel.


Mit zahllosen Verordnungen und Maßnahmen hatten die Besatzungsbehörden massiv in das Leben der Menschen eingegriffen. Zwischen den besetzten und den unbesetzten Gebieten wurden Grenzsperren errichtet, die den Alltag der Menschen erheblich erschwerten. Hinzu kamen willkürliche Ausgangssperren, Straßenkontrollen und Einquartierungen. Bei Unfällen und Übergriffen durch Besatzungssoldaten starben rund 130 Zivilisten.
     Die Verweigerung der Kooperation stellte die Franzosen besonders auf dem Verkehrssektor vor erhebliche Probleme. So mussten sie eine Eisenbahn unter eigener Regie installieren, um Hundertausende Tonnen Kohle abzutransportieren, was aufgrund der Komplexität des Gleissystems zu Unfällen und Störungen führte.

 

Plakat „Hände weg vom Ruhrgebiet!“ Grafiker: Theo Matejko. Foto © Bundesarchiv Plak 002-012-025; © bpk / Deutsches Historisches Museum, Bildquelle LVR Ruhr Museum

 

Auch die Besatzungssoldaten befanden sich in einer schwierigen Situation. Versorgung und Unterkünfte waren oft unzureichend.

     Sie sahen sich einer überwiegend feindlich eingestellten Bevölkerung gegenüber und lebten in der Angst, Opfer von Attentaten zu werden. So töteten in Dortmund Unbekannte zwei französische Feldwebel, was die Erschießung von sechs Bürgern zur Folge hatte und als „Dortmunder Bartholomäusnacht“ in die Stadtgeschichte einging.

 

Der von der Ruhrindustrie und vom Deutschen Reich finanzierte passive Widerstand ruinierte die deutsche Währung vollends. Die Hyperinflation führte zu einer völligen Verarmung weiter Bevölkerungsteile, die Arbeitslosigkeit erreichte unbekannte Ausmaße. Vielerorts kam es wegen der materiellen Not zu sozialen Unruhen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohten.

     Die Schau widmet sich ferner dem Propagandakrieg um die öffentliche Meinung, der in massenhaft publizierten Flugblättern und in teils rassistischen Plakaten dokumentiert wird. Sie schließt mit dem Abzug der Truppen und der Gedenkkultur, die die Ruhrbesetzung vor allem im Vorfeld der nationalsozialistischen Machtergreifung in Gang gesetzt hat.
rART/cpw


Die Sonderausstellung „Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923-1925“ wird bis zum 27. August 2023 gezeigt.
Ruhr Museum
21-Meter-Ebene

UNESCO-Welterbe Zollverein
Gelsenkirchener Str. 181
45309 Essen
Tel. 0201 / 24681 444
Öffnungszeiten
DI – SO 10 – 18 Uhr

 

Zitate aus: Portal Rheinische Geschichte des LVR (Landschaftsverband Rheinland). Die Rheinlandbesetzung (1918-1930) von Martin Schlemmer (Duisburg)

 

Literaturhinweise:

Mark Jones, 1923 Ein deutsches Trauma. Kartoniert, 384 Seiten. Propyläen Verlag, Berlin 2022. ISBN 9783549100301. EUR 26,00

 

► Peter Longerich Außer Kontrolle, Deutschland 1923. Gebunden, 320 Seiten, Molden Verlag, Wien 2022. ISBN 97883222151026. EUR 33,00

 

 

 

 

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