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rheinische ART 06/2023

Archiv 2023

SAKRAL-ARCHITEKTUR
Die Kapelle auf dem Hügel

 

Man mag über Le Corbusiers Beton-Bauten denken, was man will. Seinen Architekturstil abtun als kahl, rau und abweisend. Aber er bleibt anziehend und besticht mit faszinierenden Konstruktionen. Allen voran: Die Kapelle „Unserer Lieben Frau von der Höhe“ in der kleinen Gemeinde Ronchamp bei Belfort in Ostfrankreich.

 

Die Kapelle mit dem Hauptturm, dem untypischen Haupteingang an der Südseite und dem nach Osten ausgerichteten Außenaltar. Foto © Wikipedia

 

Auf einem Hügel in den südlichen Vogesen-Ausläufern thront diese einzigartige katholische Wallfahrtskirche. Sie leuchtet weiß und ist schon von Ferne zu sehen. Die auf Französisch Chapelle Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp genannte Andachtsstätte auf einer Lichtung in 472 Metern Höhe ist ein Meisterwerk des schweizerisch-französischen Architekten, Designers, Bildhauers, Malers und Bautheoretikers Le Corbusier.

 

Charles-Edouard Jeanneret (1887-1965), bekannt unter dem Pseudonym Le Corbusier, ist eine der wichtigsten Figuren im Panorama der Architektur des 20. Jahrhunderts. Foto © Colline Notre-Dame-du-Haut 2023

 

Als der Architekt, der sich selbst als Atheist bezeichnete, 1950 den Auftrag zum Neubau der von der deutschen Wehrmacht 1944 zerstörten Kapelle übernahm, plante er eine plastisch-organische Architektur, individuell für den Ort und den Zweck.

     Seine Kombination von Außen- und Innenkirche in „gespritztem Beton“ war neu. Im Inneren bietet die Kapelle rund 200 Personen Platz, vor dem Freialtar außen können mehrere Hundert Gottesdienstbesucher an Messen teilnehmen.

     Das sowohl bautechnisch als auch architektonisch völlig neuartige Gebäude auf dem Hügel Bourlémont entsprach in keiner Weise den konventionellen Vorstellungen eines Sakralgebäudes. Auch wenn die damaligen Bauherren sich „etwas Neues“ wünschten: Der Bau war von Beginn an umstritten und es gab nicht wenige Zeitgenossen, die Corbusiers Sichtbeton-Kapelle ablehnten, gar verteufelten. Aber das ist längst Geschichte und die Kritiker sind verstummt.

 

Innenansicht mit Kanzel, Altar und Lichtquellen der Südfassade. Foto © rheinische ART 2023

 
Heute ist die Kapelle Notre-Dame-du-Haut weltweit bekannt und in Fachkreisen ist es unzweifelhaft, dass Le Corbusiers Entwurf die Kirchenarchitektur des 20. Jahrhunderts revolutionierte. Der im modernen Stil errichtete Bau besteht aus einer geschwungenen, zweiteiligen Betonmuschel. Sie reflektiert damit des Baumeisters Faible für natürliche Formen wie Muscheln, Schneckengehäuse oder Knochen, die sich immer wieder in seinen Arbeiten finden.

     Es gibt die Anekdote, dass eine vom Wasser polierte Muschel, die Corbusier 1946 am Strand von Long Island gefunden hatte und die er stets bei sich trug, den Impuls für die organisch konstruierte Dachform geliefert habe.

 

Innenansicht einer Fensterleiste an der Südfassade. Foto © rheinische ART 2023

 

Hinweise auf das Weltkulturerbe Foto © rheinische ART 2023

 

Erstaunlich an dem Ronchamp-Gebäude: Das geschwungene Dach berührt den eigentlichen Kirchen-Baukörper nicht, es wird also nicht von den Seitenwänden getragen, sondern ist in Betonpfeiler eingehängt, die innerhalb der Wände errichtet wurden.

     Diese ungewöhnliche Bauweise wird ergänzt durch eine raffinierte Lichtführung, die durch die Freiräume zwischen dem Gewölbe und den Betonmauern dringt, sowie das Farbenspiel von Glasfenstern, die in die Südfassade eingelassen sind. Die einzelnen in die Gläser geschriebenen Worte sind zusammen genommen das „Vater unser“ in französischer Sprache.

     

Das gesamte Ensemble lädt Gläubige oder Pilger aus aller Herren Länder zur Andacht ein. Tatsächlich ist die Kapelle längst ein für die drei Kirchenfeste Mariä Geburt am 8. September, Christi Himmelfahrt und Mariä Himmelfahrt bedeutender Wallfahrtsort.
     Und nicht nur das. Seit dem 17. Juli 2016 ist das Sakralgebäude, wie auch mehr als ein Dutzend weitere Bauwerke von Le Corbusier, offiziell als UNESCO-Weltkulturerbe gelistet. Stilistisch gehört dieses Juwel der religiösen Baukunst dem nach dem französischen Wort béton brut (Sichtbeton) als Brutalismus bezeichneten Architekturstil an.

     Wie so oft bei erfolgreichen Werken blieb es auch nicht allein bei Corbusiers Entwürfen. Einige Erweiterungen im Umfeld der Kapelle wurden 2011 nach Plänen des Architekten Renzo Piano und des Landschaftsplaners Michel Corajoud durchgeführt.

 

Monumentales, gusseisernes Hauptportal der Kapelle mit beidseitigen Emaillearbeiten. Sie zeigen bunte Bäume, Wolken, Sterne, Wege und Hände. Damit sind es Motive von Corbusier, die er häufig verwendete. Foto © Wikipedia CCBY-SA 3.0

 

Der Kampanile von Jean Prouvé mit den Modulor-Proportionen. Er ist 5,52 Meter lang und der Querbalken für die drei Glocken liegt auf 2,26 Meter Höhe. Foto © rheinische ART 2023

 

Es gibt zahlreiche interessante architektonische Aspekte. Denn unter Verwendung des seinerzeit populären Baumaterials Beton sowie Stein, Holz, Gusseisen, Bronze, Emaille und Glas plante und schuf Le Corbusier vor 70 Jahren ein erstaunliches und leuchtendes Werk. Dies zeigt sich eindrucksvoll auch an der schweren Eingangstür.

     Durch die konstruktiven Qualitäten und die Raumgestaltung werden die beiden wesentlichen Elemente der Schöpfung hervorgehoben: Materie und Licht.
     Der auf den ersten Blick als Glockenturm zu identifizierende Hauptturm dient allerdings nicht dem Geläut. Drei Glocken, eine davon mit dem Signet des Baumeisters, der berühmten „Offenen Hand“ versehen, befinden sich separat rund 30 Meter neben der Kapelle im Sinne eines kleinen Kampanile. Die später errichtete schlichte Konstruktion sollte nicht in Konkurrenz zur Kapelle treten. Der Entwurf dafür stammt von dem Architekten Jean Prouvé, der die Proportionen nach Corbusiers Maßsystem Modulor ausrichtete.


Ebenfalls bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Baumeister alle Arbeiten ausschließlich von Fachleuten eines Gewerkes, nämlich allein von Maurern, durchführen ließ. Die Kapelle bewahrt ein altes Gnadenbild, eine polychrome Holzstatue der Jungfrau Maria aus dem Ende des 17. Jahrhunderts, auf und es dürfte kaum ein anderes Marienbildnis geben, das je nach Bedarf in das Innere der Kapelle blickt und durch Drehung auch nach außen schaut, wenn für Pilger am Außenaltar eine Messe zelebriert wird.

 

Historische Darstellung der Kapelle vor 1913. Sie wurde 1944 zerstört, einzelne Mauerwerke und zwei alte Glocken wurde in den Corbusier-Bau integriert. Foto © Wikipedia gemeinfrei

 

Der Platz der Kapelle auf der Anhöhe verzeichnet eine wechselvolle Geschichte. Im Jahre 1092 wurde auf dem Bourlémont-Hügel die erste Pfarrkirche errichtet und der Jungfrau Maria geweiht. 1789 wurde sie im Zuge der Französischen Revolution an einen Kaufmann veräußert, der sie als Depot für Tiere und Futter nutzte.

     Mehreren Familien aus Ronchamp gefiel diese Entweihung ihrer Kapelle nicht. Sie kauften sie gemeinsam zurück und überführten sie wieder in ihre sakrale Bestimmung. Seither ist sie in Privateigentum.

     Eine der frühen und größten Wallfahrten fand 1873 statt, als sich bis zu 30 000 Pilger an einer Marien-Verehrung beteiligten. Ein weiterer großer Bitt- und Bußgang fand im Oktober 1962 anlässlich der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils statt. Zu der Wallfahrtsmesse an der Notre-Dame-du-Haut nahmen seinerzeit rund 250 000 Pilger teil. Der Baumeister über sein Werk nach der Einweihung am 25. Juni 1955: „Mit dem Bau dieser Kapelle wollte ich einen Ort der Stille, des Gebets, des Friedens und der inneren Freude erschaffen.“ Das ist ihm nachhaltig gelungen.
rART/cpw

 Die Kapelle hatte seit ihrer Einweihung keine angemessene Restaurierung erfahren. Mit grundlegenden Instandsetzungen der alten Betonstrukturen hat man in jüngster Zeit begonnen. Aktuell ist die Westfassade eingerüstet und die Schäden an den Betonwänden, an den Stahlbetonposten und -trägern werden beseitigt.


Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp
13 Rue de la Chapelle,
70250 Ronchamp, Frankreich
Tel +33 (0) 3 84 20 7326
Öffnungszeiten
Täglich 10.00 - 17.30 Uhr

 

 

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