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rheinische ART 06/2023

Archiv 2023

 INDUSTRIEKULTUR

Spinnen, weben, waschen, walken

 

Kann eine Fabrik ein Glücksfall sein? Etwa im Sinne eines beispiellos erhaltenen Produktionsbetriebs deutscher, wenn nicht gar europäischer, Industriekultur? Sie kann es! Zu sehen ist ein derart ausgewöhnliches Relikt aus den Endjahren des 19. Jahrhunderts im rheinischen Euskirchen-Kuchenheim.

 

Briefkopf der Tuchfabrik Müller um 1910. Bildquelle Firmenarchiv der Tuchfabrik Müller. Foto © Wikipedia gemeinfrei

 

Was den Textilfachmann fasziniert, den Textilingenieur technisch begeistert und den unkundigen Besucher verblüfft, ist die Tatsache, dass in Euskirchen ein Industriemuseum existiert, in dem so gut wie alles erhalten ist und konserviert wurde, was es braucht, um aus Schafswolle Fasern zu spinnen, diese zu weben und zu veredeln, bis fertiges Wolltuch oder Filz nach strengen Qualitätskontrollen für den Verkauf bereit ist.

 

Dampfmaschine von 1903, Hersteller Otto Recke, Rheydt. Bis 1961 wurden alle Maschinen im Unternehmen mit Dampfkraft angetrieben. Einmal im Monat, am Dampfsonntag, ist sie in vollem Betrieb zu bewundern. Foto © rheinische ART 2022

 

Das LVR-Industriemuseum Tuchfabrik Müller ist kein Schauhaus im klassischen Sinne, mit vielen Vitrinen, Texttafeln und multimedialen Effekten.

     Mit seinem nahezu kompletten Arbeitsplatz- und Maschineninventar – bestehend aus rund 5000 Exponaten – wozu unter anderem eine Dampfmaschine, Krempelei-Technik und Webstühle zählen sowie zahlreiche persönliche Halbseligkeiten der Textilarbeiter, von der Kaffeetasse bis zur Haarbürste und von der Zigarettenschachtel bis zur Kopfschmerztablette, ermöglicht es einen einzigartigen Blick in die Arbeitswelt einer Tuchfabrik vor über 100 Jahren. 

     An diesem außergewöhnlichen Ort, so betont der Landschaftsverband Rheinland (LVR) als Hüter des Hauses, scheine die Zeit stehen geblieben zu sein. Diesem Eindruck kann sich niemand entziehen. Ein jahrzehntelanger „Dornröschenschlaf“ lag über dem Bauensemble, denn 1961 schloss die Tuchfabrik mangels Aufträgen.

 


Ein Maschinenvorführer am Webstuhl. Besucher können den lautstarken Betrieb der Webstühle hautnah erleben – und alle Fragen stellen. Foto © LVR-Industriemuseum

 

Der Besitzer, Kurt Müller, verriegelte in jenem Jahr seine Fabrik und ließ im Inneren und Äußeren alles so, wie es war. Verbunden war der radikale Schritt des Unternehmers mit seiner Hoffnung, später wieder die Produktion aufnehmen zu können.

     Doch das große Textilsterben hatte den einst boomenden Standort Deutschland längst erfasst und das Ende der Tuchweber-Blütezeit im rheinischen Raum eingeläutet. Im Falle der sogenannten vollstufigen Tuchfabrik Müller, in der alles, vom Importrohstoff aus Australien bis zum hochwertigsten Wolltuch, in eigenen Regie bearbeitet wurde, führten ineffiziente Arbeitsschritte zusätzlich zu betriebswirtschaftlichen Problemen.

 

 

Außenansicht mit Innenhof. Rechts Maschinenhaus mit Dampfkessel und -maschine, dahinter u.a. die Produktionseinheiten Färberei, Wolferei, Krempelei, Spinnerei, Weberei, links u.a. Kontor. Foto © LVR-Industriemuseum

 

Die Tuchfabrik Müller gehörte zu jenen frühindustriellen Betrieben, die in der berühmten Wolltuch-Region zwischen Verviers, Aachen, Monschau und Euskirchen Tausenden Menschen über zwei Jahrhunderte Beschäftigung boten und weit über die Grenzen hinaus für hochwertige Textilwaren bekannt waren.

     Nicht von ungefähr galt der Spruch, dass die Armeen aus aller Welt in Uniformtuchen aus der Region zwischen Ardennen, Nordeifel und Kölner Bucht gegeneinander kämpften.

     Aus dem stillgelegten Areal wurde ein Vierteljahrhundert später, was heute als ein erhaltener und in dieser Art europaweit einzigartiger „Fabrikkosmos“ bezeichnet wird. Eine Textilfabrik, die eine Reise in die Geschichte von Arbeitswelt, historischem Know How und Technik ermöglicht. Wie kaum an einem anderen Ort wird in Euskirchen in einer bestechenden Geschlossenheit eine Fertigungskultur für Wolltuch und Filz präsentiert, die von der traditionellen Handarbeit bis zur industriellen Massenfertigung reicht.

     Alle Museumsbesuche erfolgen stets nur mit fachkundigen Führungen. Sie geleiten vorbei an surrenden alten Textilmaschinen, an imposanten Krempel- und mächtigen Spinnmaschinen. Webstühle dröhnen und donnern fast ohrenbetäubend und schwere Webschützen jagen im Kette-Schuss-System hin und her. Tagesgeschäft eines Tuchmacher-Unternehmens, aber eine fantastische Demonstration von Technikgeschichte für Laien wie Kenner.

 

Historisches Firmenschild, undatiert. Das Schild bewirbt Stoffe für Zivilkleidung. Tirtey ist ein aus Baumwoll- und Wollgarn gewebter einfacher Anzugstoff.  Exponat im LVR-Industriemuseum Foto © rheinische ART 2022

 

 

Zeitgenössische Werbung für Feintuch „Bestes Deutsches Erzeugnis“. Text: „Wenn Sie im Mittelpunkt stehen wie dieser Bräutigam… dann im Frack aus [Feintuch]“. Exponat im LVR-Industriemuseum Euskirchen. Foto © rheinische ART 2022

 

Die Historie der Tuchfabrik Müller ist gut dokumentiert und damit auch die Gründe für ihren Aufstieg und Niedergang.

     Die Gebäude stammen zum Teil noch aus dem Jahr 1801. Sie wurden zunächst für eine Papiermühle errichtet. Diese stellte 1843 den Betrieb aufgrund von Wasserproblemen ein.

     Die Anlage diente daraufhin als Wollspinnerei und -wäscherei, die ab 1860 auch mit Dampfkraft arbeitete. Der Unternehmer Ludwig Müller erwarb 1894 die Fabrikimmobilie und den Maschinenpark.

     Er setzte ab 1903 eine moderne Dampfmaschine ein und spezialisierte sich auf robusten Wollstoff (Streichgarn) für Uniformen. Abnehmer waren vor allem Heer, Marine und Polizei.

 

In zweiter Generation übernahm Sohn Kurt Müller 1929 den Betrieb, musste jedoch 1942 kriegsbedingt schließen. Ab 1947 verzeichnete die Tuchfabrik für ein Jahrzehnt einen kurzen Aufschwung.

     Starke Konkurrenz aus dem europäischen Ausland, verändertes Konsumverhalten, die Verlagerungen in Billiglohnländer sowie mangelnde Innovationen beschleunigten schließlich den Niedergang des Unternehmens.

     Wie sehr der Fabrikant Müller in Altem verharrte und das Neue nicht sah, wird an zwei technischen Aspekten deutlich. Die Tuchfabrik war selbst 1961 noch nicht auf Elektrizität umgestellt worden. Bis zum letzten Arbeitstag wurde die Energie über die Dampfmaschine von 1903 erzeugt und mittels Transmissionsriemen auf die Maschinen übertragen.

     Für das Museum von heute ein Glücksfall: Jeden zweiten Sonntag im Monat wird der historische Kraftlieferant ab 13.30 Uhr für drei Stunden zwecks Demonstration in Betrieb genommen. Sehens- und hörenswert!

rART/ K2M

 

LVR-Industriemuseum
Tuchfabrik Müller

Carl-Koenen-Straße
53881 Euskirchen

Tel 02234 9921-555
Öffnungszeiten

DI – FR 10 – 17 Uhr

SA, SO, Feiertage 11 – 18 Uhr

 

 Die Tuchfabrik Müller ist Ankerpunkt der europäischen Route der Industriekultur (ERIH). Weitere Informationen auf www.erih.de

 

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