rheinische ART
Start | | Über uns | Anzeigen | Impressum | Kontakt | Datenschutz

rheinische ART 08/2023

Archiv 2023

MUSEUM LUDWIG
Vom Wert der Zeit


Die Zeit ist ein Phänomen. Sie ist unfassbar, bestimmt unser Leben und geht uns alle an. Die Zeit braucht uns nicht, sie rinnt dahin wie eine Quelle, die ewig sprudelt. Doch was machen wir mit der Zeit? Und was macht die Zeit mit uns? Im Museum Ludwig geht man diesen Fragen nach.

 

Lois Weinberger NICHTS ANDERES SIND TIERE / VOLLKOMMENES JETZT / VOM HOLLUNDER ZUM WASCHBETON / DER BLICK GETRENNT, 1998 DOD Liquid Inkjet, 70,1 x 100 cm © Studio Lois Weinberger Reproduktion: Rheinisches Bildarchiv, Köln

 

Alle zwei Jahre zeigt das Museum Ludwig Gegenwartskunst aus seiner Sammlung in einer neuen Präsentation. Dieses Mal wird der Blick auf verschiedene Verständnisse von Zeit gelenkt und darauf, in welcher Form Künstler das Thema aufgreifen. Im besonderen Fokus steht die Kunst der letzten 20 Jahre.


Viele Künstler machen darauf aufmerksam, dass Kunst in der Gegenwart erfahren wird. Sie wird in der Gegenwart produziert und vom Besucher betrachtet. Damit verbunden ist immer die Gleichzeitigkeit der eigenen Erinnerung mit einer gesellschaftlichen wie individuellen Geschichtsschreibung. Die Betrachtung von Kunst kann also prickelnde Momente der Erkenntnis provozieren, die ihren ganz eigenen, individuellen Wert haben.

 

Pauline M´barek Glance, 2017, Video, Farbe, HD, QuickTimeProRes422 HQ, Spieldauer: 03:00 min. ©Thomas Rehbein Galerie und Pauline M’barek


Grundsätzlich liegt dem Konzept der Ausstellung das „Gedankenbild“ des Philosophen Walter Benjamin zugrunde. Das ausstellende Haus formuliert dazu: „In dem eindringlichen Bild des ´Engels der Geschichte` stellte Walter Benjamin das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dar. [Der Engel] hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.

 

Carolyn Lazard Extended Stay, 2019, Halterung für einen medizinischen Gelenkarm, persönlicher Patientenmonitor, Grundkabelabonnement, unbegrenzte Laufzeit © Carolyn Lazard Foto: Guido Schiefer

Unbekannte Fotografin (Kollegin von Asimina Paradissa mit deren Kamera) Asimina Paradissa bei der Fertigung von Autoschlössern im Automobilzuliefererbetrieb Bomoro, Wuppertal, 1972 Gelatinesilberpapier (Agfa) 9,8 x 6,8 cm Ausstellungskopie © Asimina Paradissa Reproduktion: Rheinisches Bildarchiv, Köln

 

     Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. In seinem Denkbild – formuliert 1940 angesichts von Nationalsozialismus, Hitler-Stalin-Pakt und europäischem Faschismus – verbindet Benjamin verschiedene gegenläufige Bewegungen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verschränken: Es vermittelt angesichts der Katastrophe die Hoffnung auf die Zukunft, weil es weit zurück in der Vergangenheit etwas gab, das Paradies genannt werden kann. Es erteilt einer in die Zukunft verlängerten linearen Fortschrittsgeschichte eine Absage, weil sie Herrschaftsgeschichte nacherzählt. Und es hebt die zentrale Bedeutung kritischer Geschichtsschreibung hervor. Sie sichert die Brüche der Geschichte, fokussiert auf ihre Diskontinuität als erkenntnisstiftendes Moment für Gegenwart und Zukunft, auch wenn dies nur schockhaft in der nur für einen Augenblick stillgestellten Bewegung möglich wird. Für Benjamin war das Denkbild mehr als eine beliebig übertragbare Metapher. Vielmehr steht es für ein Modell der Erkenntnisproduktion, das von den materialistischen, also den ökonomischen Bedingungen von Gesellschaft und Geschichte ausgeht.“


Wem das etwas zu verkopft ist, der mag sich bei einem Besuch auf das Einfache mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besinnen. Die Klammer der Präsentation bildet die Vorstellung vom „Wert der Zeit“ – laut Definition des Hauses einem gesellschaftlich bestimmten Wert, dem die abstrakte, messbare Zeit zugrunde liegt. Sie bestimmt den Warenwert der Arbeitskraft und organisiert gesellschaftliche Zeit.


Eine Reihe von Künstler beschäftigt sich mit dieser Frage. Zu ihnen gehört Harun Farocki, der in seiner Videoinstallation Gegen-Musik von 2004 nach dem Vorbild der Filmemacher Dziga Vertov und Walter Ruttmann ein Porträt der französischen Textilstadt Lille zeigt, nun aber als Montage von vorgefundenen, operativen Bildern, die laut Farocki die Stadt „ebenso rationalisiert und geregelt wie ein Produktionsprozess“ zeigen. Der Wert der Zeit verweist auf die Ökonomien der Zeit.

 

Harun Farocki Gegen-Musik, 2004, Videoinstallation, 23:00 min © Harun Farocki GbR


Gegen den Glauben an eine kontinuierlich fortschreitende Entwicklung setzt zum Beispiel Guan Xiao (*1983 in Chongqing, China) in ihrer Installation The Documentary: Geocentric Puncture von 2014 die Zeitwahrnehmung des Internets, in welcher Vergangenheit gegenwärtig erscheint. In diesem Sinne ist auch der Titel „Geozentrische Wunde“ zu verstehen. Ein veraltetes Weltbild, nach dem die Sonne um die Erde kreist, lebt im 21. Jahrhundert in der Vorstellung fort, dass der Mensch das Zentrum der Welt bilde.
     Haegue Yang (*1971 in Seoul, Südkorea) wiederum nimmt in Mountains of Encounter von 2008 ein verborgen gebliebenes historisches Ereignis, das Zusammentreffen des koreanischen Unabhängigkeitskämpfers Kim San mit der US-amerikanischen Journalistin Nym Wales (alias Helen Foster Snow), das Teil weltumspannender Prozesse war, zum Anlass für eine raumgreifende und die Besucher einbeziehende Installation.
rART/ruwoi

 

Die Neupräsentation der Sammlung ist bis 2015 zu sehen.
Museum Ludwig
Heinrich-Böll-Platz
50667 Köln
Tel. 0221 / 221 26165
Öffnungszeiten
DI - SO 10 – 18 Uhr
Jeden 1. DO im Monat 10 – 22 Uhr

 

Vertretene Künstlerinnen und Künstler:
Thomas Bayrle, Alighiero Boetti, Frank Bowling, Miriam Cahn, Mark Dion, Maria Eichhorn, Harun Farocki, Guan Xiao, Wade Guyton, Lubaina Himid, Ull Hohn, Rebecca Horn, Anne Imhof, Boaz Kaizman, Carolyn Lazard, Jochen Lempert, Pauline Mʼbarek, Kerry James Marshall, Park McArthur, Oscar Murillo, Füsun Onur, Asimina Paradissa, Robert Rauschenberg, Cameron Rowland, Julia Scher, Andreas Schulze, Andreas Siekmann, Diamond Stingily, Danh Vo, Lois Weinberger, Haegue Yang
Kuratorin Barbara Engelbach

 

 

 

 

 

 

Die 
rheinische ART.
empfiehlt:

Mit GOOGLE ins Museum.


Das Google Arts & Culture Projekt zeigt Meisterwerke aus den Museen und Sammlungen dieser Welt.

► 
mehr

Und geht der Frage nach: Was ist Contemporary Art?

mehr