Archiv 2016
RUHRGEBIET UND FOTOGRAFIE
Kinder, Kohle, Klassenkampf
Solche Entdeckungen sind selten. Sehr selten! Die im Stil einer Sozialreportage von dem Arbeiterschriftsteller Erich Grisar stammenden Schwarz-Weiß-Fotografien aus der Zeit der Weimarer Republik - allesamt vergessene Werke - liefern ungewöhnliche Blicke auf den Ruhrgebietsalltag.
Erich Grisar Vor der Westfalenhütte Dortmund 1928-1933 Foto © Stadtarchiv Dortmund 2016. Oben: Erich Grisar Sammler von Kohleresten (Ausschnitt) 1928-1933 Foto © Stadtarchiv Dortmund 2016 |
Das Essener Ruhr Museum zeigt diesen dokumentarischen Fotoschatz derzeit mit rund 200 Motiven in der Ausstellung „Erich Grisar. Ruhrgebietsfotografien 1928-1933“.
Die Bevölkerung der Ruhrregion, das schwere Alltagsleben im proletarischen Milieu, dem er selbst entstammte, und die harten Arbeitsbedingungen während Jahren wirtschaftlichen Niedergangs in Deutschland sind die Themengebiete des Foto-Autodidakten. Erich Grisar (1898-1955) ist bekannt als Arbeiterdichter, Schriftsteller und Journalist. Er publizierte freischaffend über Themen der Arbeits- und Lebenswelt im Ruhrgebiet, vorzugsweise an Beispielen seiner Heimatstadt Dortmund. Sein fotografischer Nachlass allerdings erfährt erst jetzt eine Würdigung als Fotokunst.
Erich Grisar Zwei Jungen in der Arbeitersiedlung Kaiserstuhl Dortmund 1928-1933 Foto © Stadtarchiv Dortmund 2016
Erich Grisar Gänsehüten in der Siedlung Kaiserstuhl Dortmund 1928-1933 Foto © Stadtarchiv Dortmund 2016
Erich Grisar Siedlung Kaiserstuhl Dortmund 1928-1933 Foto © Stadtarchiv Dortmund 2016 |
Sozialkritik in Bildern In der unruhigen politischen Endphase der Weimarer Republik wandte sich Grisar als Ergänzung zu seiner Textarbeit der Fotografie zu. Mit seinen Aufnahmen bebilderte er seine journalistische Arbeit. Es waren fotografisch unterlegte Sozialreportagen, die von der Tagespresse oder von Zeitungen des linken Spektrums veröffentlicht wurden.
Grisar nahm die damals von anderen Medienvertretern ausgehenden Impulse der sozialkritischen Arbeiterfotografie auf und war selbst ein unabhängiger Teil von ihr. Als Schriftsteller war es sein Ziel, zwischen den gesellschaftlichen Klassen zu vermitteln. In seiner Rolle als Fotograf unterlegte er diese Zielsetzung optisch eindrucksvoll. Mit Fotografien von
Arbeitsplätzen und elenden Arbeits- und Lebensbedingungen.
Ruhrgebietsblagen Besonders beeindruckend sind Grisars Kinder-Impressionen. Barfuß, oft schmuddelig, fast lumpig gekleidet, verkaufen Mädchen und Jungen Zeitungen oder Lebensmittel, dienen als Boten, sammeln Kohlereste und Pferdeäpfel, hüten Gänse, spielen auf Hinterhöfen oder auf der Straße, zwischen Brachland, Abraumhalden und Hochöfen.
Erich Grisar Kriegsversehrter 1928-1933 Foto © Stadtarchiv Dortmund 2016 |
In den Siedlungen hängt die Wäsche wie in Neapel zum Trocknen zwischen den Bergarbeiterhäuschen. Kriegsversehrte und Krüppel sind im Nachkriegsdeutschland wie selbstverständlich Teile der Stadtbilder.
Moderne Großstädte in einem gewaltigen Ballungsraum einerseits, von Rauch und Schmutz durchzogene Fabrikareale, strukturlose städtische Weichbilder und trostlose Wohnstätten der armen Bevölkerung andererseits, Grisars Fotos zeigen das sozial widersprüchliche Bild einer Region im industriellen Rausch. Es sind Bilder, wie sie namhafte Fotokollegen seinerzeit auch von Belgiens Borinage, vom nordfranzösischen Industrierevier oder den Kohle- und Industriegürteln des amerikanischen Ostens fast deckungsgleich fertigten.
Der Unterschied jedoch: Erich Grisar war Insider. Ein Mann des Ruhrpotts, geboren in Dortmund und auch dort gestorben. Sein schonungsloser Blick auf das soziale Ungleichgewicht, das brutale Oben und Unten, den täglichen Überlebenskampf und die Verelendung breiter Schichten war ein analysierender und dokumentierender Blick von innen, nicht kühl sachlich von außen. Vielleicht ist das ein Grund, dass er mit seinen Fotografien das Dasein der einfachen Leute mit Empathie in Szene setzte.
Erich Grisar Arbeiter in der Nähe des Hauptbahnhofes Dortmund 1928-1933 Foto © Stadtarchiv Dortmund 2016
Erich Grisar Menschengruppe 1928-1933 Foto © Stadtarchiv Dortmund 2016 |
Der Schriftsteller Grisar hat die Weltwirtschafts- und Finanzkrise in seinem Roman Ruhrstadt (1931) verarbeitet. Aus demselben Jahr stammt seine Foto-Text-Reportage Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa. Ein nüchtern-sachlicher Reisebericht mit Milieustudien und über 100 Fotografien. Der Dortmunder hielt mit der Kamera die Armut in den unattraktiven backyards europäischer Großstädte fest, aber auch den Wohlstand und das ganz alltägliche Leben.
Für das Dortmund-Portrait Ruhrstadt, heute ein wichtiges Zeitdokument, fand sich in den Dreißigern kein Verleger. Das Reise-Buch wurde 1938 von den NS-Machthabern als schädliches und unerwünschtes Schrifttum gebrandmarkt. Der kritische Beobachter Erich Grisat passte sich dem nationalsozialistischen Staat zwangsweise an ohne zu sympathisieren.
Im Ruhr Museum verdichten sich Grisars Fotografien zu einer berührenden, fast subtil anklagenden Fotoschau. Sie legen Zeugnis ab von den tiefgreifenden Auswirkungen der Krisenjahre auf die Arbeiterschaft im Revier - stellvertretend für viele ähnliche Ballungsräume. Dass sich diese frühen Arbeiten von ihm mit anderen sozialkritischen Bild-Kollektionen zum Thema Ruhrgebiet, etwa von Albert Renger-Patzsch, messen können, ist nicht übertrieben. Renger-Patzsch (1897-1966), Vertreter der Neuen Sachlichkeit, lebte ab 1929 in Essen, lehrte Fotografie an der Folkwangschule und lichtete ebenfalls eindringlich die Ruhrszenerie ab. Zu den großen Foto-Chronisten des Reviers gehören ferner der erst jüngst allgemein bekannt gewordene Oberhausener Rudolf Holtappel (1923-2013) und der Kölner Chargesheimer (1924-1971), dessen Bildband Ruhrgebiet von 1958 für Betroffenheit und Ärger in politischen Kreisen an der Ruhr sorgte (mehr).
Erich Grisar Abtransport von Schlammkohle Dortmund 1928-1933 Foto © Stadtarchiv Dortmund 2016 |
Erich Grisar wurde in der Dortmunder Nordstadt geboren. Er stammte aus proletarischem Hause, war Sozialdemokrat und Guttempler. Vor seiner journalistischen Tätigkeit arbeitete er als Vorzeichner in einer Kesselschmiede. Den Ersten Weltkrieg erlebte er als Soldat an der West- und Ostfront und wurde schwer verwundet. Der danach pazifistisch eingestellte Grisar arbeitete zeitweise in Leipzig. 1924 kam er nach Dortmund zurück und begann seine Laufbahn als autodidaktischer Schriftsteller und Journalist.
Er machte sich als Arbeiterdichter und Verfasser expressionistischer Lyrik und Sprechchöre einen Namen. Seine Fotografien wurden dagegen vergessen. Der Bildernachlass lagerte seit 1972 im Dortmunder Stadtarchiv und wurde in den letzten Jahren systematisch aufgearbeitet und digitalisiert. Es handelt sich um 4.350 Aufnahmen, bis auf 100 Fotografien sind es großformatige Negative. Rund ein Drittel davon zeigen Motive aus Dortmund.
cpw
► Die Wiederentdeckung von Grisars fotografischem Nachlass ermöglichte eine Neuausgabe seiner illustrierten Europa-Reise-Reportage von 1931. Literaturhinweis: Andrea Zupancic (Hrsg.) Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa; Bilder und Berichte von Erich Grisar, Neuauflage 2016, 224 Seiten, zahlr. Abb., Hardcover, 24,95 €, ISBN: 978-3-8375-1405-6
► Einige der abgebildeten Fotografien wurden aus optischen Gründen randlich leicht angeschnitten.
Die Ausstellung „Erich Grisar. Ruhrgebietsfotografien 1928-1933“ ist bis zum 28. August zu sehen.
Ruhr Museum
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Täglich 10-18 Uhr