rheinische ART
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rheinische ART 02/2016

Archiv 2015

KULTUR-INSEL SEGUIN BEI PARIS
R4


Wie kann man aus dem ehemaligen Werksgelände einer Autofabrik eine "Mikrostadt" der Kunst und Kultur machen? Mit Phantasie, Kreativität, einer Vision und natürlich viel Geld. Bis 2018 soll die Seine-Insel „Île Seguin“ bei Paris, auf der einst Renault Autos montierte, in ein nagelneues Kulturzentrum umgewandelt werden. Ein Blick auf den Sachstand.

 

Nordfassade des Museumsgebäudes R4 auf der Île Seguin (Computergrafik) Dezember 2012 Foto © Ateliers Jean Nouvel

 

Boulogne-Billancourt ist die südwestliche Vorstadt von Paris. In Kunstkreisen ist die Gemeinde vor allem bekannt als Archivstandort der berühmten Farbfotografien des Bankiers Albert Kahn (mehr). Die Farbbild-Sammlung aus den Pionierjahren der Fotografie gilt als weltweit einzigartig. Größter Arbeitgeber der Stadt war über Jahrzehnte das Autowerk Renault.

 

Historisch Die Renault-Werke auf der Insel, Blick flussaufwärts vom Pont de Sèvres, 1934, Foto © Renault Communication D/R

 

Im Wandel Die Flussinsel Île Seguin, Blick flussaufwärts. Luftbild Juli 2012 Foto © P. Guignard-SAEM, Val de Seine-Aménagement

 

Stammsitz Der renommierte Hersteller luxuriöser Automobile errichtete 1929 auf der 70.000 Quadratmeter umfassenden Seine-Insel "Île Seguin" das größte und modernste Autowerk Europas, mit einer Fließbandstraße von 1,5 Kilometer Länge. Kenner der automobilen Welt wissen: Von Renault - heute als Renault-Nissan eine französisch-japanische Allianz - kamen unter anderem der Turbolader, die Kardanwelle, die Trommelbremse und der Sicherheitsgurt.

     Die rasante Zunahme der Mobilität in den 50er und 60er Jahren ließ das Insel-Werk aus den Nähten platzen. Renault verlagerte seine Produktion sukzessive in andere Städte. Der letzte Pkw lief im Stammwerk auf der Flussinsel von Boulogne-Billancourt 1992 vom Band.


Projekt Mikrostadt Verödung und Abriss der Industriebrache setzten ein und nach fast einem Jahrhundert Renault war die Insel als letzte noch bebaubare Fläche im Großraum Paris offen für Neues.

     Schnell wurde im kunstfreudigen Paris die Gründung eines Kunstmuseums diskutiert - das hat in Frankreich Tradition. Es sei daran erinnert, dass erst Ende 2014 gleich zwei neue architektonisch grandiose Häuser eingeweiht wurden: das Museum Fondation Louis Vuitton in Paris (mehr) und das Naturkundehaus Musée des Confluences an der Rhône in Lyon (mehr). 

     Bei der Île Seguin dachten die Planer weiter. Ein Wissenschaftszentrum, so hieß es, sei ideal für die Insel. Schließlich konzentrierte sich die Planung auf einen Mix aus Kultur, Kunst und Kommerz.

 

Museum R4 innen: Perspektivenskizze der groβen Ausstellungshalle, Juli 2012 Foto © Ateliers Jean Nouvel

 

Projekt Musikstadt Es ist nicht bei Planungen geblieben. Der Baubetrieb dieses städtebaulichen Mammutprojektes läuft seit gut zwei Jahren und lässt erahnen, was sich künftig auf der Île Seguin alles finden wird. Im Westteil des langgestreckten Areals entwickelt sich derzeit eine Art Musikstadt (cité musicale). Sie besteht aus einem riesigen Konzertsaal mit rund 6.000 Plätzen, einem multifunktionalen Auditorium mit 1.100 Plätzen und Probe- und Aufnahmeräumen, Büros, Gastronomie und Shopping-Centern. Ende 2016 sollen die ersten Konzerte dort stattfinden.

 

Museum R4 Skizze der Fassaden-Transparenz mit Blick auf das Ufer von Boulogne-Billancourt, Juli 2012 Foto © Ateliers Jean Nouvel

 

Projekt Kunstzentrum Gegenüber auf der Ostseite, an der Inselspitze flussaufwärts, hat - nach längeren Querelen und Bürgereinsprüchen - mit dem Startschuss vom September 2014 der Aufbau des Kunstzentrums unter dem markant-technischen Kürzel R4 begonnen.

     Dieses Zentrum für bildende und visuelle Kunst gilt als das Kernstück des kulturellen und städtebaulichen Projektes. Ab 2018 sollen gemäß den Planungen Museums- und Ausstellungsräume für moderne Kunst im Umfang von über 2.300 Quadratmetern nutzbar sein, ferner Künstlerateliers, Galerien, Lager-, Auktions- und Verkaufsräume und ein Skulpturenpark. Zahlreiche weitere Einrichtungen komplettieren im Endausbau die neue Kultur-Insel. Hierzu werden eine Zirkusarena, ein 110-Meter-Aussichtsturm, ein Kinocenter, Sportanlagen sowie Promenaden und Terrassen gerechnet.

     Für Architektur und Projektrealisierung zeichnet der international renommierte französische Baumeister Jean Nouvel verantwortlich (mehr). Sein Planungs- und Koordinationsteam definiert „die architektonische Diversität und die künstlerisch-kulturelle Dimension“ als Leitmotive des Umbauprojektes der Île Seguin. Kreativität und Komplementarität sollen sich dynamisch zwischen den beiden Herzstücken, dem R4 auf der Inselspitze flussaufwärts und dem Musikzentrum des Conseile Général des Hauts-de-Seine flussabwärts, entfalten.

 

Namensgeber Der Kompaktwagen R4 wurde zwischen 1961 und 1992 gebaut. Er war als Kastenwagen, als Cabrio Plein Air oder mit Kunststoffaufbau Rodeo erhältlich, insgesamt wurde er 8 Millionen Mal verkauft. Foto © Renault

 

Werbung von Renault und dem französischen Modemagazin „Elle“ für den R4 Parisienne 1963. Sein Kennzeichen: Rohrgeflechtmuster an den Türen. Foto © Renault

 

Régie Nationale Am 16. Januar 1945 wurden die Renault-Werke verstaatlicht. Sie produzierten wieder auf der Insel Seguin und waren vier Jare später der größte Autoproduzent des Landes. Zeitgenössisches Plakat Foto © Renault

 

Den Namen R4 hat das Kunstzentrum schlicht von einem der berühmtesten französischen Personenkraftwagen. Nein, nicht von Citroëns avantgardistischer „Göttin“ DS (La Déesse) oder der populären „Ente“ 2CV (deux chevaux), sondern dem ersten fünftürigen und frontgetriebenen Kleinwagen von Renault.

     Seinen Erfolg verdankte das Vehikel dem Umstand, dass es praktisch, preiswert und robust war. Den R4 schätzten alle, Studenten, Landwirte, Handwerker und junge Familien. Selbst der Öffentliche Dienst wie etwa die spanische Guardia Civil und die französische Gendarmerie verwendeten den Pkw bis in die 1990er Jahre.


Kultur-Insel Was die künftige Kultur-Insel so heraushebe, sei die Einzigartigkeit des Ortes, heißt es bei den Organisatoren.

     Zwar werde das Eiland im kollektiven Gedächtnis der Franzosen mit den glorreichen Zeiten der Renault-Werke in Verbindung gebracht, doch sei die Sicht auf die rein ökonomische Seite des Ortes zu einseitig. Vielmehr sei es seine außergewöhnliche künstlerische, industrielle und soziale Geschichte. Schon zu Beginn der 19. Jahrhunderts, also bevor der eigentliche industrielle Wandel einsetzte, galt der malerische Landstrich im Fluss als „Quelle der Inspiration“. Etwa für Landschaftsmaler wie Camille Corot und William Turner (mehr), oder für Impressionismus-Vertreter wie Eugène Delacroix und Alfred Sisley (mehr). Einem Gerbereibetrieb des Wissenschaftlers und Finanziers Armand-Jean-Francois Seguin (1767-1835), dem Namensgeber der Insel, folgte schließlich die Société Renault Frères - das Unternehmen der Gebrüder Renault, das 1929 auf der Île Seguin das Fahrzeugwerk aufbaute. Renault war 1898 gegründet worden und hatte zuvor seine Kraftwagen in Boulogne-Billancourt zusammengeschraubt. In den fast einhundert Jahren war die Insel das Zentrum des Fahrzeugbaus in Frankreich. Mit R4 als Museumsname wird an die große Tradition erinnert. Einen Blick in die Geschichte des Autoproduzenten bietet auch das Museum Renault.
Claus P. Woitschützke

 

 

Expo Musée Renault
27 Rue des Abondances
92100 Boulogne-Billancourt
Tel 0033-(0) 1 46 05 21 58
Öffnungszeiten
DI, DO 14-18 Uhr


Entwicklungsgesellschaft für das Projekt Île Seguin:
SAEM Val de Seine Aménagement
696, Rue Yves Kermen
92100 Boulogne-Billancourt
Tel 0033-(0) 1 46 08 83 83