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rheinische ART 10/2016

Archiv 2016
SEINER ZEIT VORAUS
Schtschukins Schätze


Weder die dauernden politischen Misstöne noch die jüngste Verstimmung des russischen Regierungschefs Putin wegen Äußerungen von Frankreichs Staatspräsident Hollande zum Syrien-Krieg konnten der Sache etwas anhaben. Die Ausstellung „Ikonen der Moderne - Die Schtschukin-Sammlung“, die eigentlich von den Staatsmännern gemeinsam eröffnet werden sollte, ging auch ohne die vergrätzte Politprominenz an den Start.

 

Paul Gauguin Aha oé feii (Eh quoi! Tu es jalouse?) Été 1892, Huile sur toile, 68 x 92 cm © Musée d'État des Beaux-Arts Pouchkine, Moscou Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016

 

Die Besonderheit dieser Ausstellung: Zum ersten Mal seit fast 60 Jahren ist die legendäre Kunstsammlung des russischen Industriellen und Kunstmäzen Sergei Iwanowitsch Schtschukin (1854-1936) so in der Gesamtheit zu sehen, wie sie einst von ihm gebildet worden war.

     Und das nicht in der Heimat des fanatischen Sammlers, in Rußland, sondern im Westen! Rund 130 Werke der einzigartigen Kollektion französischer moderner Kunst sind im Privatmuseum des Pariser Unternehmers und Multimilliardärs Bernard Arnault, der Fondation Louis Vuitton, versammelt. Anlass dieser Superschau ist das französisch-russische Kulturjahr 2016/2017 und es ist unzweifelhaft: „Ikonen der Moderne“ ist nicht nur Höhepunkt eines französisch-russischen Kultur-Events, sondern das Highlight der gesamten Pariser Kunstsaison.

 

Paul Cézanne Mardi Gras (Pierrot et Arlequin) 1888-1890, Huile sur toile, 102 x 81 cm, © Musée d’État des Beuax-Arts Pouchkine, Moscou Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016

 

André Derain L‘Homme au journal (Chevalier X) 1911-1914, Huile sur toile, 162,5 x 97,5 cm, © Musée d’État de l’Ermitage, Saint-Pétersbourg Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016

 

Ein weiterer Superlativ bei dieser Moderne-Schau: Die Ökonomie! Museumsgründer Arnault prognostizierte für die viermonatige Laufzeit eine Besucherzahl von über einer Million und wird damit vermutlich richtig liegen.

     Russlands Kulturminister Wladimir Medinsky gab bekannt, dass die Exponate aus seinem Land mit 3,5 Milliarden Euro versichert seien. Die Kunstwerke repräsentieren damit einen derart hohen Gesamtwert - manche Fachleute sprechen gar von einem „unschätzbaren Wert“ -, dass wohl nur noch ein Veranstalter wie das Luxusunternehmen Vuitton (unter anderem LVMH) die exorbitanten Summen für Transport und Versicherung - vor allem letzteres - stemmen kann. In einem öffentlichen Haus sind derartige Sternstunden der Kunst unter diesen Kostenaspekten nicht mehr finanzierbar.

     Dass diese Präsentation das Zeug zum Blockbuster hat ist klar, denn wer ausschließlich Meisterwerke ausstellt - und das ist hier der Fall – der kann nichts falsch machen.


Die Schtschukin-Kollektion
umfasst Werke der renommiertesten Impressionisten, Postimpressionisten und modernistischen Meister. Von Cézanne bis Van Gogh (mehr) sind Werke des nahezu vollständigen Kanons des Moderne vertreten; der Besucher begegnet aber auch seltener zu sehenden Positionen wie etwa Toulouse-Lautrec (mehr).

     Es sind Prunkstücke aus der Petersburger Ermitage und dem Moskauer Puschkin-Museum – im Regelfall eben nur dort zu sehen - und seit besagten Jahrzehnten auch nie zusammen. Warum?

 

Christian Cornelius (Xan) Krohn Portrait de Sergueï Chtchoukine, 1916, Huile sur toile, 191 x 88 cm, © Musée d’État de l’Ermitage, Saint-Pétersbourg Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016

 

In der Geschichte dieser Moderne-Sammlung spiegeln sich die politischen Verwerfungen Europas von 1900 bis heute. Gleichzeitig war die Kollektion selbst mehrfach Objekt der Politik. Ein Blick zurück auf eine dramatische Historie:

     Der in Moskau geborene vermögende Tuchhändler Sergei Schtschukin war passionierter Kunstsammler und hatte einen untrüglichen Sinn für Avantgarde-Kunst. Auf die stieß er bei einem Paris-Besuch 1897, da war er selbst gerade Anfang Vierzig.

     Claude Monet war es, von dem der russische Geschäftsmann fasziniert war, den er in seinem Atelier im normannischen Dorf Giverny besuchte und von dem er in jenem Jahr zunächst ein Werk aus der Bildserie „Kathedrale von Rouen“ kaufte - und innerhalb der nächsten zehn Jahre zwölf weitere Gemälde. Darunter das Ölbild „Frühstück im Grünen“ (Le Déjeuner sur l’herbe ) von 1866.

 

Claude Monet Le Déjeuner sur l’herbe, 1866, Huile sur toile, 130 x 181 cm, © © Musée d'État des Beaux-Arts Pouchkine, Moscou Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016


Vuitton-Kuratorin Anne Baldassari: „Von hier aus folgte Sergei Schtschukin der Entwicklung der modernen Malerei vom Impressionismus über Postimpressionismus und Fauvismus bis zum Kubismus“. Familiäre Schicksalsschläge wie der Freitod zweier Söhne, davon der erste bei Novemberunruhen in Moskau 1915, und der überraschende Tod seiner Frau etwa ein Jahr später, änderten das Leben des Mäzens radikal.

     Aus seiner Privatsammlung formte er ein eigenes Museum und machte es der Öffentlichkeit zugänglich, alles in seinem eigenen klassizistischen Haus, dem Troubetzkoy Palace in Moskau. Für den Treppenaufgang hatte sich der vermögende Russe von Matisse die großen Bilder „Der Tanz“ und „Die Musik“ anfertigen lassen, in diversen Sälen drängten sich in „Petersburger Hängung“ die eher kleinen Leinwände von Gauguin und anderen Künstlern der Moderne Rahmen an Rahmen. Insgesamt hatte sich der Sammler bis 1914 einen Gemäldebestand von 258 Werken zusammengestellt.

  

Musikzimmer im Stadthaus Troubetzkoy Palace von Sergei Schtschukin in Moskau 1914. An den Wänden Werke von Degas, Maurice Denis und Henri Rousseau. © Musée d'État des Beaux-Arts Pouchkine, Moscou/ Fotoalbum Pavel Orlov 1914 Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016


Verstanden haben den leidenschaftlichen Kunstmäzen damals wohl nur die Wenigsten. Wie sollten sie auch: Der Mann war seiner Zeit voraus, ein Vordenker, der in Werken der Avantgarde-Maler Kunst sah, bevor sie als solche bezeichnet wurde. Schtschukin besaß Kühnheit und Leidenschaft. Dies ließ ihn wie ein wild gewordenen Bilderjäger auftreten und dafür wurden er und seine Avantgarde-Kollektion in Russland verlacht und verschmäht.

     Die radikalen Trends in der Kunst jener Jahre, die ja selbst in Westeuropa als extrem gewagt galten und viele Kritiker und Feinde hatten, die Schtschukin als Visionär jedoch kaufte und förderte, machten ihn zu einem Außenseiter im heimischen Kunstbetrieb. Viele hielten ihn, der lebenslang in seinem Redefluss durch Stotterei gehandicapt war, für so verrückt wie die Bilder in seiner Kollektion.

     Vielleicht sah er sich auch selbst so. Überliefert ist, dass er seinen ersten Gauguin-Erwerb vor Freunden damit kommentierte, das Bild hätte ein Verrückter gemalt und ein ebenso Verrückter gekauft.

 

Pablo Picasso Trois femmes, 1908, Huile sur toile, 200 x 178 cm, © Musée d’État de l’Ermitage, Saint-Pétersbourg Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016

 

Vladimir Tatline Nu, 1913, Huile sur toile, 141 x 105,5 cm, © Galerie nationale Tretiakov, Moscou Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016

 

Edgar Degas La Danseuse dans l‘atelier du photographe, 1875, Huile sur toile, 65 x 60 cm, © Musée d'État des Beaux-Arts Pouchkine, Moscou Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016

 

Über Matisse lernte er 1908 Pablo Picasso kennen und begann ihn zu sammeln. Innerhalb von nur drei Jahren erstand er über 40 Werke des Spaniers. Darunter vor allem frühe kubistische Arbeiten und einige Gemälde der Blauen und Rosa Periode (mehr).

     Schtschukins privates Museum war nicht nur Schauhaus, es war Inspirationsort und Impulsgeber für die eigene russische Avantgarde. Kasimir Malewitsch, Vladimir Tatline, Alexander Rodtschenko oder der Rayonismusbegründer Michail Larionow, um nur wenige herauszuheben, wurden von ihren Eindrücken dort in ihrer künstlerischen Entwicklung beeinflusst.

 

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs beendete Schtschukin seine Sammeltätigkeit moderner europäischer Kunst. Der Kaufmann und kultivierte Exzentriker vermachte die Sammlung der Tretjakow-Galerie in Moskau und emigrierte im Zuge der Oktoberrevolution nach Paris, wo er bis zu seinem Tode lebte.

     Die geänderte politische Lage hatte ungeheure Auswirkungen auf seine zurückgelassene Kunst-Kollektion. Sie wurde 1918, wie viele andere seinerzeit auch, per Dekret von Lenin konfisziert, verstaatlicht und mit anderen Beständen zusammengelegt. Praktisch ausgedrückt: Sie verschwand in Depots.

     Nach dem Zweiten Weltkrieg war Sergei Schtschukins Bilderschatz ebenfalls nicht gefragt. Diktator Josef Stalin zerschlug schließlich die einzigartige Gemälde-Kollektion 1948 und teilte die Werke auf die Leningrader Ermitage und das Moskauer Puschkin-Museum auf, zwei der berühmtesten Museen des Sowjetreiches. Dort wurden sie jahrelang unter Verschluss gehalten.

 

Die nationale Kunstrichtung hieß jetzt „Sozialistischer Realismus“ (mehr), die Avantgardekunst der Jahrhundertwende hingegen blieb verfemt, der Sammler selbst wurde verschwiegen und war fast vergessen.

     Nur langsam ließen die Kunstfunktionäre bis in die Achtzigerjahre die Erinnerung an den großartigen Sammler Schtschukin zurückkehren. Die „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ (UdSSR) ist längst verschwunden, Russland ist geblieben und die Gemäldeverteilung der berühmten Sammlung bis heute auch.

 

Henri (dit Le Douanier) Rousseau Combat du tigre et du buffle, fin 1908 - juillet 1909, Huile sur toile, 46 x 55 cm, © Musée d’État de l’Ermitage, Saint-Pétersbourg Foto © Exposition „Icône de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, Fondation Louis Vuitton Paris 2016

 

Andrang schon in der ersten Woche. Besucherschlage vor dem Eingang der Fondation Louis Vuitton in Paris. Foto © rART 2016

 

Es ist schon als Sensation zu werten, dass die in ihrem Wert als „unschätzbar“ eingestufte Kunstwerke-Sammlung nun vereint in der Pariser Vuitton Kunsthalle zu sehen ist.

     Mehr als zwei Jahre diplomatisches Tȇte-à-Tȇte auf höchster Ebene und hinter verschlossenen Türen war erforderlich. Seit 1948, so Kuratorin Anne Baldassari, habe es keine einzelne Ausstellung als „kohärente künstlerische Einheit“ mit Werken der Schtschukin-Sammlung gegeben. Selbst in Russland war es bislang nicht möglich, die Sammlung in ihrer einstigen Konstellation zu sehen.

     Den Besucher in Paris erwartet im Vuitton-Glas-Palast am Bois de Boulogne (mehr) eine Retrospektive mit über 25 Picassos, fast ebenso vielen Gemälden von Matisse, rund ein Dutzend Gauguins (mehr) sowie Exponate von allen anderen prominenten Moderne-Künstlern des frühen 20. Jahrhunderts.

     Die Ausstellung zeichnet die Entstehung der Sammlung von 1890 bis 1914 nach. Um den Einfluss der französischen Kunst auf die Entwicklung der russischen Avantgarde zu zeigen, werden zusätzlich 30 Werke russischer Maler ausgestellt, die als Leihgaben aus verschiedenen Kunsthäusern in Europa und den USA stammen.

Claus P. Woitschützke

 

Der westlichen kunstinteressierten Öffentlichkeit sei die sogenannte Schtschukin-Sammlung nicht hinlänglich bekannt, wie Kuratorin Baldassari bei der Eröffnung in Erinnerung rief. Was zum einen daran liegen mag, dass man weit reisen musste, um Teile der Kollektion zu sehen, und auch das war nicht immer sicher. Zum anderen: Lange lagerten die Werke in Museumsdepots und ihr Sammler wurde namentlich verschwiegen. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten kam es mit Rußland verstärkt zu Ausleihen oder wie bei der großen Düsseldorfer Ausstellung im Museum Kunstpalast „Bonjour Russland“ 2010 zu einer breiteren Rundum-Schau von Werken der klassischen Moderne in russischem Besitz.


Die Ausstellung „Ikonen der Moderne – Die Schtschukin-Sammlung“ läuft bis zum 20. Februar 2017.
Fondation Louis Vuitton
8, Avenue du Mahatma Gandhi
Bois de Boulogne
75116 Paris
Tel. +33 1 40 69 96 00
Öffnungszeiten
MO-SO 10-20 Uhr
FR bis 23 Uhr
Metro 
Linie 1: Station Les Sablons 

 

 

 

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